
DC Comics
Nach seiner Festnahme (Watchmen #5) sitzt Rorschach (Walter Kovacs) im Gefängnis und lässt sich von dem Psychoanalytiker Dr. Malcolm Long behandeln. Long macht mit ihm einen Rorschach-Test. Die schwarzen Flecken lassen bei Walter Erinnerungen hochkommen, aber er lügt Long an, als dieser fragt, was er sehe: ein Hund mit gespaltenem Schädel wird zum hübschen Schmetterling, ein kopulierendes Paar zu Blumen.
Wieder passieren zwei Dinge zugleich: Wir erfahren Walters Vorgeschichte aus erster Hand, gleichzeitig lesen wir in Malcolm Longs Tagebuch seine Sicht auf den Patienten: Long ist zwar überrascht, wie gestört Kovacs ist, aber er ist optimistisch, ihm helfen zu können und er will sich mit einem Behandlungserfolg einen Namen machen. Long ist fasziniert von seinem Patienten, gleichzeitig ist er ihm nicht gewachsen, weil sein Starren ihn unbehaglich macht.

Walter Kovacs und Malcolm Long (DC Comics)
Long gibt sich freundlich und hilfsbereit, nennt seinen Patienten vertraulich Walter. Aber Walter verachtet Long, weil er das genaue Gegenteil von ihm ist: „Fat, wealthy. Think you understand pain.“ Daraufhin erzählt er ihm seine Entstehungsgeschichte.
Walter wurde allein von einer Mutter großgezogen, die anschaffen ging und ihn geschlagen hat, als sie durch ihn einen Kunden verlor. Er wurde seiner Mutter weggenommen und in ein Heim gebracht (Charlton, wie der Comicverlag von dem DC die Helden gekauft hat, auf denen Watchmen lose basiert). Von anderen Kindern gemobbt, wehrte er sich einmal brutal, indem er einem Jungen eine brennende Zigarette ins Auge drückte und einem anderen ins Gesicht biss.

Walter und der Schattenriss. (DC Comics)
In einem Aufsatz schreibt der junge Walter in einem Aufsatz über seine Eltern, dass sein Vater Charlie von seiner Mutter wegen politischer Meinungsverschiedenheiten hinausgeworfen worden sei. Der Vater mochte Präsident Truman, die Mutter nicht. Walter bewundert Truman aus Pflichtbewusstsein seinem Vater gegenüber, den er für einen Kriegshelden hält, und weil Truman die Atombombe auf Japan abwerfen ließ und damit Millionen Leben gerettet hat. Damit wird der Präsident zum Vorbild der Zweck-heiligt-die-Mittel-Ethik. Später schildert der junge Walter, wie ihn das Bild von seiner Mutter bei Sex in seine Alpträume verfolgt – der Anblick hat ihn offenbar schwer traumatisiert.

Das schwarz-weiße Kleid aus Dr. Manhattan-Fasern. (DC Comics)
Mit 16 nahm Walter einen Job bei einem Damenschneider an. Dort fand er 1962 ein Kleid aus dem Stoff, das ein ständig wechselndes, schwarz-weißes Muster hatte. (Eine Erfindung von Dr. Manhattan.) Nachdem die Frau, die das Kleid nie abgeholt hat, vergewaltigt und ermordet wurde, während Nachbarn tatenlos zuschauten, galten für Walter die Menschen als verkommen. Aus Scham dazuzugehören machte sich Walter ein Gesicht, das er ertragen konnte, im Spiegel anzusehen. Er schneiderte sich aus dem Kleid seine Maske.

Walter sagt, was er beim Rorschach-Test wirklich sieht.
Der Comedian wurde für ihn zum Vorbild, weil er das menschliche Potenzial für Grausamkeit verstand und sich nie davon abwandte. Die Verbrechensbekämpfung ist für Walter eine moralische Pflicht, ein Zwang. Diesem folgte er, als er die Entführung einer Sechsjährigen untersuchte. Als er zum Tatort kam, stellte er fest, dass das Mädchen tot und an zwei Hunde verfüttert worden war. Das war das Ende von Kovacs und die Geburtsstunde von Rorschach. Er tötete den mutmaßlichen Täter, indem er ihn ankettete und ihn mit einer Säge zurückließ, während er sein Haus abbrannen ließ. Niemand kam heraus.
Walter schildert seine Wandlung als große nihilistische Erkenntnis:
„The cold, suffocating dark goes on forever, and we are alone. Live our lives, lacking anything better to do. Devise reason later. Born from oblivion; bear children, hellbound as ourselves; go into oblivion. There is nothing else. Existence is random. Has no pattern save what we imagine after staring at it for too long. No meaning save what we choose to impose.“
Der Rorschachtest wird vor diesem Hintergrund zu einer Sinnsuche im Sinnlosen. Muster werden gesucht, wo nur der Zufall herrscht. Damit wird das Instrument des Psychoanalytikers für nichtig erklärt. Im Gegensatz zu Rorschachs Maske zeigt es nur starre Bilder, in denen man sehen kann, was man will, während die Maske dynamisch bleibt. Zugleich wird damit die Symbolik hinter der Symmetrie, die in Watchmen #5 durchexerziert wurde, hinterfragt. Für Rorschach ist nichts im Gleichgewicht, es ist ein Ideal, das er lediglich anstrebt.
Dr. Malcolm Long glaubt zunächst, dass die Rorschach-Identität Symptom einer Krankheit ist. Trotzdem versinkt er in der Arbeit und vernachlässigt sein Intimleben mit seiner Frau. Nach dieser Erzählung verändert sich seine Sicht.

Malcolm Long im Angesicht des Weltendes (DC Comics)
Er wird auf der Straße rassistisch beschimpft, er liest die Nachrichten vom drohenden Atomkrieg, er bemerkt das Grafitto der „Hiroshima lovers„. Er vergrault ein befreundetes Paar, das er mit seiner Frau zuhause empfängt, indem er Rorschachs Geschichte nacherzählt. Er lässt sich von seiner Frau beschimpfen, aber es ist ihm egal:
„Why do we argue? Life’s so fragile, a successful virus clinging to a speck of mud, suspended in endless nothing. Next week, I could be putting her into a garbage sack, placing her outside for collection.“
Am Ende schaut er selbst auf die Tafel des Rorschach-Tests, die er Kovacs gezeigt hat, und bemüht sich, einen Baum darin zu sehen, aber er sieht nur leere, bedeutungslose Finsternis: „We are alone. There is nothing else.“ Das letzte Panel ist ein schwarzes Quadrat, darauf folgt das titelgebende Nietzsche-Zitat:
„Battle not with monsters, lest ye become a monster, and if you gaze into the abyss, the abyss gazes also into you.“
„Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“
Dr. Malcolm Long hat zu lange in den Abgrund geschaut, den Rorschach ihm eröffnet hat, und ist hineingefallen. Der Optimist hat die Sicht des Pessimisten oder gar Nihilisten übernommen. Das „Ungeheuer“ Rorschach (in Watchmen #5 als Hai oder Tiger symbolisiert) hat gewonnen, indem er bloß seine Geschichte erzählt hat, ohne den Psychoanalytiker überzeugen zu wollen. Der Kranke, das ist der Arzt gewesen, jetzt gehört er zu den wenigen Gesunden, die der Wahrheit ins Gesicht blicken: Die wahren Ungeheuer sind die Menschen.
Walter Kovacs hat ohne seine Maske sein Gesicht verloren. Gleichzeitig bringt er auch einen anderen Insassen um seins, als er ihn nach einer Drohung mit heißem Bratfett übergießt. Der Mann liegt darauf im Sterben.

Walter Kovacs wehrt sich mit heißen Bratfett.
Da Walter als Rorschach schon mehrere der Insassen hinter Gitter gebracht hat, drohen sie ihm mit Rache. Die Situation wird lebensbedrohlich für ihn, aber er bleibt ruhig und Herr der Lage – wie schon beim Therapieversuch. Die anderen müssen sich nach ihm richten. Rorschach macht keine Kompromisse.
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