
DC Comics
Ein nahezu weißes Cover, bis auf ein kleines buntes Stück: ein Schmetterling zwischen Blumen und Pflanzen und einem Marienkäfer. Auf der ersten Seite offenbart sich das Bild als kleiner Ausschnitt einer riesigen Glaskuppel, die in einer Schneelandschaft steht und einen Garten beherbergt. Er ist Teil von Karnak, Adrian Veidts (Ozymandias) Refugium in der Antarktis. Ein Stück Paradies, ein Mikrokosmos in der tödlichen Eiswüste. Der kleine Ausschnitt in der Glaskuppel hat die Form des Blutspritzers auf dem Smiley-Button des Comedians (Watchmen #1).

Nur durch eine Schicht Glas vor dem Kältetod getrennt: der Garten von Karnak.
Veidt schaut auf die vielen Monitore vor sich (siehe Watchmen #10) und denkt über diese Methode nach: Der Autor William S. Burroughs habe sie mit seiner Cut-Up-Technik vorweggenommen, mit der er Wörter und Bilder umgestellt hat, um sie einer rationalen Analyse zu entziehen und unbewusste Sicht auf die Zukunft zu bekommen. Veidt sieht in diesem Mosaik auch Parallelen zu abstrakten impressionistischen Gemälden und zu schamanistischen Eingeweideschau. „… an emergent worldview becomes gradually discernible amidst the media’s white noise.“

Mosaik mit Blick in die Zukunft: Ozymandias.
Zunächst aber sieht Ozymandias, wie Nite Owl und Rorschach auf Karnak zufliegen. Veidt lädt in der Zwischenzeit seine drei Diener in den Garten ein, vergiftet sie mit Wein und öffnet die Kuppel, wodurch der Garten stirbt. Veidt erzählt dabei seine Lebensgeschichte: Er ist ein Kind aus reichem Hause, das sein Vermögen verschenkt hat, um auf den Spuren Alexanders durch die Welt zu ziehen und sich sein Vermögen selbst aufzubauen. Er ist ein Selfmade-Man, der nach dem Vorbild Alexanders Frieden stiften und die Welt vereinen will.

Auf den Spuren Alexanders des Großen: Ozymandias erinnert sich.
Man sieht in den Rückblenden Veidt immer nur von hinten, meist im Schatten, ein schwarzer Umriss, als würde er bereits die Toten am Ende des Kapitels vorwegnehmen. Zugleich erscheitnt er als eine Art Leerstelle, in die sich der Leser selbst einfügen kann. Frei nach Scott McCloud: Je abstrakter das Bild, desto größer die Identifikationskraft mit der dargestellten Figur.

Alexander und der gordische Knoten.
Ozymandias erzählt auch die Sage vom Gordischen Knoten nach, als Alexander das größte Rätsel der Antike mit einem Schwerthieb löste. Ein Gemälde der Szene hängt in Karnak. Alexanders Schnitt ist eine Art Cut-up-Technik avant la lettre. In diesem Symbol fügen sich im Nachhinein einige Anspielungen zu einer Reihe: „Gordian Knot“ heißt auch die Schlosser-Firma, die Daniel Dreiberg das Türschloss austauscht, nachdem Rorschach bei ihm einbricht. Die Gang, die Hollis Mason tötet (Watchmen #8), nennt sich „Knot Tops“ (nach den Haarknoten), die Freundin der Taxifahrerin Joey gehört auch dazu, sie versucht später Joey ein Buch über Beziehungen zu geben, das den Titel „Knots“ trägt. Doch Joey zerreißt das Buch: Hier wird das Cut-up wörtlich genommen, denn es entstehen Textschnipsel, allerdings in keiner neuen Konstellation, sondern im Chaos. Die gordische Lösung bedeutet auch das Zerreißen von sozialen Bindungen. Und für Ozymandias wird sie zum Massenmord.

Die gordische Lösung: „Knots“, ein Buch über Beziehungen, wird zerrissen.
Als Nite Owl und Rorschach Veidt überwältigen wollen, wehrt er sie ab, gesteht seine Morde und erklärt ihnen seinen Plan: Er hat eine riesige Kreatur gezüchtet, die er nach New York teleportieren will, um die Menschen glauben zu lassen, dass sie von einem Alien aus dem All heimgesucht werden. Der gemeinsame Feind soll die Weltmächte vereinen. Millionen müssen sterben, um Milliarden vor dem drohenden nuklearen Holocaust zu retten. (Die Idee dazu hat Alan Moore der Outer Limits-Episode „The Architects of Fear“ entlehnt, worauf in Watchmen #12 angespielt wird.)

Am Ende der Welt zum tatenlosen Zusehen verdammt: Rorschach und Nite Owl.
Nite Owl und Rorschach wollen das verhindern, aber es ist bereits zu spät. Anders als andere Superschurken erklärt Ozymandias nur seinen Plan, weil es keine Chance mehr gibt, ihn aufzuhalten. Die Superhelden sind machtlos. All ihre Mühe, den Fall zu lösen und den Täter zur Rechenschaft zu ziehen, die Reise in die Antarktis, erweisen sich als vergeblich. (Das unfreiwillige Opfer von Hollis Masons Tod, das durch Rorschachs Befreiung ausgelöst wurde, erscheint noch sinnloser.) Ihnen bleibt nichts anderes als staunendes Schweigen. Am anderen Ende der Welt sind sie zum tatenlosen Zusehen verdammt.

Bezieungskonflikte auf der Straße in New York
Zugleich sehen wir Menschen in New York auf der Straße: Gloria Long spricht mit ihrem Mann, dem Psychoanalytiker Malcolm (siehe Watchmen #6). Sie hat ihn verlassen, will zu ihm zurückkehren, aber sie vermisst die Person, die er einst war: „I can’t live with someone who feels driven to help hopeless cases, then lets their misery affect our lives.“
Inzwischen kommt es zum Streit eines anderen Paares: Joey stößt ihre Ex-Freundin zu Boden und tritt auf sie ein. Malcolm will eingreifen, aber Gloria hält ihn zurück. „Gloria, please“, sagt Malcolm. „I have to. In a world like this … I mean, it’s all we can do, try to help each other. It’s all that means anything …“ Der Nihilist entdeckt die Nächstenliebe als letzten verbliebenen Wert in sich. Gloria aber bleibt hart, sie droht ihm, ihn zu verlassen, wenn er sich in den Streit einmischt. Er aber rechtfertigt sich: „Gloria … I’m sorry. It’s the world … I can’t run from it.“ Dann setzt er sich für die Frau am Boden ein. Auch einer der vorbeifahrenden Polizisten, die die Szene mitansehen, will nicht stehenbleiben, um seine Pflicht zu tun, aber der andere insistiert und die Polizei greift ein.

Bernie und Bernie finden zueinander im Tod.
Gleichzeitig erfährt der Zeitungshändler, dass der Junge neben ihm Bernie heißt – also wie er selbst. Aber der Junge tut das als bedeutungslos ab. Die meiste Zeit habe er nur am Zeitungsstand gesessen, weil die Aufladestation warm ist. Bernie hat die meiste Zeit ohnehin nur Selbstgespräche geführt. Nur in einer Sequenz hat der alte Bernie dem jungen seine Mütze und das Comicheft geschenkt. Der drohende Weltkrieg hat in ihm die Nächstenliebe geweckt.
Jetzt wiederholt sich die Geschichte in größerem Ausmaß: Als das Alien im benachbarten „Insitute for Extraspacial Studies“ eintrifft, fallen sich die beiden kurz vor ihrem Tod in die Arme. In dieser letzten Sequenz spiegeln sich die „Hiroshima lovers“, das Graffito an der Wand, das einen Schattenriss eines Paares zeigt und an die Toten nach dem Atombombenabwurf erinnert.
Das Zitat von Percy Bysshe Shelley aus dem Gedicht Ozymandias schließt das Kapitel:
„My name is Ozymandias, king of kings:
Look on my works, ye mighty, and despair!“
Das Zitat ist aus dem Kontext gerissen. In dem Gedicht ist es eine Inschrift auf einer zerbrochenen Ramses-Statue, die in der Wüste liegt. Die Statue ist ein Relikt einer längst vergangenen Zeit, der Spruch ist in der Gegenwart nur noch ein Ausdruck von Vergänglichkeit und Ohnmacht.
Im Kontext von Watchmen gewinnen die Werke des Ozymandias wieder an Signifikanz: Sie nehmen wieder eine furchterregende Dimension an, die die Menschen zur Verzweiflung bringen, und zwar indem sie massenhaften Tod verbreiten. Das Gedicht endet mit den Worten:
Nothing beside remains. Round the decay
Of that colossal wreck, boundless and bare
The lone and level sands stretch far away.
Das Gedicht und Watchmen gehen eine Verbindung ein: Während im Gedicht zwischen dem Wort und der Gegenwart eine Diskrepanz besteht (Machtanspruch vs. Verfall und Wüste), fallen sie bei Watchmen zusammen (Macht führt zur Zerstörung) und bekommen eine Dimension, die weit über das einst Gemeinte hinausgeht. Ozymandias‘ Wüste der Antarktis wird zur Verwüstung in New York.
Pingback: Before Watchmen: Ozymandias | Watching the Watchmen
Pingback: Doomsday Clock #4: Walk on Water | Watching the Watchmen
Pingback: Doomsday Clock #11: A Lifelong Mistake | Watching the Watchmen