Before Watchmen: Minutemen

before watchmen minutemen #1 cover

DC Comics

Ein Vierteljahrhundert lang war Watchmen eine in sich abgeschlossene Serie in einem eigenständigen Universum. Im Jahr 2012 entschied sich DC Comics dazu, in der Comic-Reihe Before Watchmen dieses Universum zu erweitern und Vorgeschichten erzählen zu lassen. Die Idee wirkt zunächst befremdlich. Nicht nur, weil Alan Moore sich dagegen gesträubt hat, sein Werk anzurühren, aber auch weil Watchmen bereits ausführlich die Vorgeschichten der Hauptcharaktere erzählt hat. Jede zweite Ausgabe war einem der sechs Helden gewidmet, dazu gab es in den Anhängen noch zahlreiches Zusatzmaterial, das einzelne Aspekte nicht nur vertiefte, sondern die Welt von Watchmen auch glaubhaft in einer eigenen Realität verankerte.

Die Geschichte der Minutemen, der Superheldengruppe aus den 40ern, mit der alles begann, erzählte Hollis Mason (Nite Owl) in seiner Autobiografie Under the Hood. Allerdings waren daraus nur Auszüge zu lesen, in Prosa statt in Comicform. Darwyn Cooke unternimmt in seiner sechsteiligen Minutemen-Serie den Versuch, Under the Hood in eine Bildsprache zu übersetzen und einige Lücken in der Geschichte auszufüllen. Zugleich erzählt Cooke, wie Hollis‘ Buch bei seinen ehemaligen Mitstreitern auf Widerstand trifft und welche Probleme er damit hat, es zu veröffentlichen.

Wiederkehr des Kreis-Symbols

Auch wenn das Coverdesign sich an Watchmen orientiert, fallen gleich zu Beginn mehrere Unterschiede auf: Das Cover zeigt kein Objekt in Nahaufnahme, sondern den Helden Nite Owl, es dient nicht als erstes Panel, das auf der ersten Seite als Sequenz weitergeführt wird, und das Seitenlayout folgt nicht dem strengen Neuner-Raster der Vorlage. Jedes der fünf weiteren Cover zeigt einen anderen Helden.

Trotzdem orientiert sich Cooke an dem Watchmen-Symbol des Kreises und der Zoomtechnik: Anfangs sieht man den Halbkreis eines Korbes, in dem ein Baby liegt, dann den Halbkreis, den ein Brückenbogen bildet, schließlich die Sonne mit Planeten, dann Dr. Manhattans Stirn mit dem Wasserstoff-Symbol und Zahnrädern, die ihn umgeben. Auf der zweiten Seite folgen Kanaldeckel, Motor und Uhr, während der Kreis in der Bildmitte von Panel zu Panel kleiner wird, so wie der Smiley-Button in Watchmen #1. (Das Prinzip wiederholt sich jeweils am Anfang jeder Ausgabe und am Ende der letzten.)

Silhouette

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In dieser ersten Sequenz reflektiert Mason darüber, das ein Mensch im Laufe eines Lebens seine Sicht auf die Welt ständig erweitert und schließlich irritiert wird, sodass man seinen Halt in den Dingen sucht, die einem einst Freude gebracht haben. Mason erlebte seinen Irritationsmoment durch den Kulturschock, den Dr. Manhattan auslöste. Mason gab das Heldendasein auf und wandte sich dem Reparieren von Autos zu, einfache Probleme, die sich lösen ließen.

Mason schreibt zu Beginn den Epilog zu Under the Hood. „I’ll just have to face facts, girl“, sagt er zu seiner Hündin. „I’m no Tolstoy.“ Es wirkt, als würde sich Autor Darwyn Cooke darin reflektieren, dass er sich hier mit dem Vorbild Alan Moore misst, ohne jemals sein Niveau zu erreichen. Zugleich gibt Mason zu, dass er beim Schreiben selbst eine beschränkte Perspektive hat, dass er nur sieht, was er sehen will – und zwar nur das Gute. In diesem Moment hält er das Gruppenbild der Minutemen hoch, und zwar so, dass die Uhr auf seinem Kamin die abgeschnittene Uhr auf dem Bild vervollständigt. Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen, zugleich wird Erinnerung durch die Sicht der Gegenwart betrachtet und also auch ergänzt. Erzählen ist also immer unzuverlässig. Der Zeiger steht auf kurz nach acht, acht Menschen sind auf dem Bild zu sehen. „Eight Minutes“ heißt das erste Kapitel.

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In der Folge führt Mason die einzelnen Minutemen ein: den geheimnisvollen Hünen Hooded Justice, der Verbrecher aus dem Fenster wirft, Silk Spectre, die Räuber fängt und für die Presse posiert, während ihr Mann und Manager Larry Schexnayder die Polizei besticht, Nite Owl, der in waghalsigen Manövern Bankräuber zur Strecke bringt und dabei Zivilisten rettet,, die er selbst in Gefahr bringt.

Der Comedian ist von Anfang an mehr Schurke als Held, ohne Moral und mit einem Hang zur Brutalität, Dollar Bill mehr eine Werbefigur als ein Superheld, Mothman stürzt sich betrunken vom Dach, als er fliegt. Allein the Silhouette scheint ihre Mission selbstlos auszuführen und ernst zu nehmen. Sie widmet sich den abgründigen Verbrechen und den hilflosesesten aller Opfer zu: Sie verfolgt einen Kinderpornografie-Ring.

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Captain Metropolis (Nelson Gardner), ein ehemaliger Marine, kontaktiert Silk Spectre und castet mit ihr die anderen sechs Helden, die daraufhin zu den Minutemen werden. Doch schon die erste Mission ist ein Reinfall. Als sie Waffenschmuggler hochnehmen wollen, erweisen sich die Waffen als Feuerwerk. Um die Blamage nicht zugeben zu müssen, belügt Captain Metropolis die Presse.

Später will Silhouette die anderen dafür gewinnen, mit ihr gegen den organisierten Kindesmissbrauch vorzugehen, aber Silk Spectre und ihr Mann sind aus Publicity-Gründen dagegen: Man soll bei den Minutemen nicht an traurige missbrauchte Kinder denken, sondern an positive Dinge. Verbrechen müssen sich mit Fäusten lösen lassen. Nur Nite Owl schließt sich ihr an und sie arbeiten zusammen an dem Fall. Er bestimmt den roten Faden der Handlung, der auch Hooded Justice zum Hauptverdächtigen macht. Nite Owl ist es auch, der Silhouette nach einem Einsatz das Leben rettet, indem er sie zu Gretchen bringt, einer Ärztin, mit der sie im Geheimen zusammenlebt. Später wird das Paar gemeinsam ermordet.

Comedian

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Als der Comedian nach seinem Angriff auf Sally ausgeschlossen werden soll, deutet Dollar Bill an, sie habe es darauf ankommen lassen. Ähnlich äußert sich Hooded Justice bereits in Watchmen #2. Der Comedian rechtfertigt sich, dass die anderen kein Recht haben, ihn zu verurteilen, weil sie selbst Heuchler seien. Später trifft er Sally bei Silhouettes Beerdigung und erzählt ihr von den Grauen, die er im Zweiten Weltkrieg erlebt hat, von einer Familie, die ihn aufgenommen und gesund gepflegt hat, und davon, wie sie vor seinen Augen vom US-Militär getötet wurde. Damit wird ansatzweise Sallys Sinneswandel erklärt, der dazu geführt hat, dass sie mit ihm Laurie (Silk Spectre II) gezeugt hat.

Geschichte wird verändert

Darwyn Cooke ändert einige Aspekte der Geschichte: Silk Spectre ist zunächst nicht mit Hooded Justice zusammen, sie tut nur so. In Wahrheit hat er ein Verhältnis mit Captain Metropolis. Bereits in Watchmen hat Sally Jupiter angedeutet, dass manche Minutemen schwul gewesen seien, ohne zu verraten, wer.  Aber nicht nur, dass die Helden ihre Homosexualität geheim halten, sie setzen sich auch nicht für Silhouette ein, als herauskommt, dass sie eine Lesbe ist. Sie muss das Team verlassen und wird später mit ihrer Partnerin ermordet. Silk Spectre rächt ihren Mord, indem sie selbst zur Mörderin wird – auch das ist eine nachträgliche Änderung von Cooke, genauso wie dass Nite Owl Hooded Justice tötet, weil er ihn für einen Kindermörder aus Silhouettes Vergangenheit hält.

Nur die halbe Wahrheit

In der Rahmenhandlung muss Hollis Mason sein Buch verteidigen: Schexnayder ist gegen eine Publikation, ein Freund von Nelson Gardner will ihn verklagen, Sally will nicht bloßgestellt werden. Schließlich droht ihm der Comedian und erklärt ihm, er habe selbst ein Kind entführt und sich als Hooded Justice ausgegeben, um sich an ihm zu rächen. Mason hat auf der Suche nach dem wahren Täter den Falschen getötet. Auch er hat kein reines Gewissen mehr.

Mason sieht ein: „There were things that were more important than the truth.“ Er streicht daraufhin problematische Passagen aus seinem Buch, nur die versuchte Vergewaltigung lässt er drin. Im Nachhinein wird deutlich, warum er nur einen Teil der Geschichte erzählt und warum auch ein Teil der Uhr fehlt: Under the Hood erzählt nur die halbe Wahrheit.

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Before Watchmen: Minutemen ist wie sein Vorbild ein Abgesang auf Superhelden, wie auch auf das Heldentum insgesamt. Es ist alles nur mehr Schein als Sein, es geht selten darum, das Richtige zu tun, und wenn man es doch tut, dann fordert es stets einen hohen Preis. Selbst Hollis Mason wird hier zum Versager, der falsche Schlüsse zieht und sich instrumentalisieren lässt, am Ende sogar einen Unschuldigen tötet. Es gibt hier keine Helden. Und das ganze Konzept hinter den Minutemen erscheint fragwürdig. Die wahren Heldentaten vollbringen andere, wie etwa die beiden Japaner, die New York vor einem nuklearen Terroranschlag bewahren.

Darwyn Cooke bereichert die Geschichte der Minutemen um neue Aspekte, die sich gut in Alan Moores Erzählung einfügen. Er erklärt schlüssig, was bislang gefehlt hat, und versucht, sogar dem Comedian etwas Menschlichkeit abzuringen, der in Watchmen nur im Angesicht von Adrian Veidts Grausamkeit Betroffenheit zeigt. Dafür findet er eine eigene Bildsprache, die mehr seinem dynamisch-cartoonhaftem Stil entspricht und ohne dass er sich bei Dave Gibbons anbiedern muss.

Lesen wird zur Gewissensfrage

Notwendig ist die Lektüre natürlich nicht, allein schon weil sie nicht von Alan Moore autorisiert ist, aber als Neu-Interpretation kann man Before Watchmen: Minutemen durchaus gelten lassen. Allerdings gibt es einen gewaltigen Selbstwiderspruch: Hollis Mason räumt am Ende ein, dass nicht alles erzählt werden müsse. Er zensiert sich selbst. Damit annulliert auch der Autor Darwn Cooke die Geschichte, die er soeben erzählt hat – obwohl es dafür bereits zu spät ist.

Am Ende steht also nur Under the Hood da in der Fassung, die wir kennen. Nicht die ganze Wahrheit, aber eine von vielen. Und gleichzeitig legitimiert sich Cooke auch, wenn er den Comedian sagen lässt, es gebe nicht nur eine, sondern mehrere Wahrheiten. Im Falle von Watchmen und Before Watchmen kann man sich eine aussuchen. Der Leser hat die Wahl, wie er auch die Wahl hat, ob er die Prequels liest oder nicht. Am Ende ist das auch eine Gewissensfrage. Wenn man wie Hollis Mason entscheidet, ignoriert man Before Watchmen oder streicht es nach der Lektüre aus seinem persönlichen Kanon.

>> Watchmen-Bibliografie

3 Gedanken zu “Before Watchmen: Minutemen

  1. Pingback: Before Watchmen: Nite Owl | Watching the Watchmen

  2. Pingback: Before Watchmen: Dollar Bill | Watching the Watchmen

  3. Pingback: Doomsday Clock #4: Walk on Water | Watching the Watchmen

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