
Avatar Press
Eine Frau betritt ein altes, schäbiges Kino. Zwielichtige, verbrauchte Gestalten verkaufen ihr eine Karte und weisen ihr einen Platz zu, dann sieht sie sich eine Reihe von Kurzfilmen an, einen nach dem anderen. Vieles an ihnen wirkt zunächst vertraut, aber dann stürzen sie jedes Mal ins Absurde, Groteske und Selbstreferenzielle. So abgestoßen die Zuschauerin auch ist, trotzdem kommt sie immer wieder, als könnte sie nicht anders.
Das ist Cinema Purgatorio, wie sich Alan Moore und Kevin O’Neill (League of Extraordinary Gentlemen) das Fegefeuer für das alte Hollywood vorstellen. In vielen achtseitigen Geschichten werden einerseits die Leiden und Sünden historischer Filmgrößen vorgeführt, andererseits wird über den Film an sich reflektiert.
Die historischen Lehrstunden darf man nicht zu wörtlich nehmen, denn die sind als Mash-ups mit Filmen inszeniert: Die Geschichte der Warner Brothers als Marx-Brothers-Film, King Kong erzählt die Geschichte des Animationspioniers Willis O’Brien, als wäre es seine eigene, die Macher von Felix the Cat erscheinen als Variationen ihrer eigenen Schöpfung, andere Episoden handeln von Dracula-Regisseur Tod Browning, „Aviator“ Howard Hughes und Superman-Darsteller George Reeves.
Auch wenn die Erzählungen weitgehend historischen Tatsachen entsprechen, wäre es mit der Hollywood-Formel „beruhend auf einer wahren Geschichte“ genauer getroffen, denn Moore nimmt sich immer wieder Freiheiten heraus. Den Mord an Elizabeth Short alias „Black Dahlia“ von 1947 in Los Angeles lässt Moore das Opfer in Form eines makabren Musicals besingen. In einer Leichenhalle (anspielend auf Sunset Boulevard) zählen die Toten andere Grausamkeiten auf, die Filmgrößen an ihnen begangen haben. Hollywood erscheint bereits als Sündenpfuhl, wenn nicht als Hölle selbst. Da kann man dankbar sein, dass der Comic schwarzweiß gehalten ist und bei all der Brutalität darin das viele Blut ausgespart ist – man sieht es nur auf den Covern.
Reflexionen über Film und Zeit
Der andere Teil der Episoden handeln vom Medium Film selbst. Ein Centurio in einem Sandalenfilm entdeckt, dass er bloß in einer Filmkulisse lebt und alles Grauen der Schlacht bloß als Belustigung für andere ist. Als Anspielung auf einen Filmfehler bei Ben Hur wird eine Armbanduhr sichtbar, der Bart seines greisen Gesprächspartners fällt ab, selbst Mord ist nicht möglich, da sich das Schwert als hölzern herausstellt. Das Leben erscheint sinnlos und versinkt in düsterer Verzweiflung.
Für andere wird die Selbsterkenntnis zum Anlass für eine Freiheit ohne Moral: It’s A Breakable Life nimmt den Weihnachtsklassiker It’s A Wonderful Life als lose Vorlage für eine Hommage auf die Stuntmen, die wahren Schutzengel in Filmen, die dafür sorgen, dass Helden unbeschadet mit allem davonkommen. Der Held wird am Ende zum skrupellosen Mörder.
Immer wieder wird auch die Paradoxie der Zeit dargestellt: Das totgesagte Genre Western erscheint Film, der in einer Geisterstadt mit Untoten spielt. Hier wird das immer wieder dieselbe Schießerei inszeniert, ohne Zuschauer, als leeres Spektakel.
Die Zeitschleife wird zum Running Gag in The Flame of Remorse Returns, einer Parodie des Superheldenserials: Das Prinzip der Retroactive Continuity (retcon), auch ein beliebtes (wenn auch billiges) Mittel, um Cliffhanger aufzulösen, wird überspitzt, indem der Superheld aus jeder Situation herauskommt, weil er jeweils die Zeit zurückdrehen kann, auch wenn das Schlimmste bereits eingetroffen ist. In The Time of Our Lives rast die Zeit in einem Haus so schnell dahin, das ein junges Paar, das dort einzieht, während der Besichtigung um Jahrzehnte altert.
Cinema Purgatorio ist ein Fest für Cineasten. Wer sich mit Filmen und ihren Entstehungsgeschichten auskennt, wird viele Anspielungen verstehen, und wer nicht, könnte motiviert werden, sich mit der Geschichte des frühen Hollywood zu beschäftigen und vieles nachzulesen. Zugleich ist es auch ein Comic Anspruchsvolle, das so komplex und dicht ist, dass es geradezu herausfordert zum Wiederlesen. So schnell kommt man aus dem Cinema Purgatorio nicht heraus, man wird darin noch eine Weile schmoren müssen. Vielleicht etwas verwirrt, aber mit Genuss.