Watchmensch (2009)

watchmensch

Brain Scan Studios

Zum Kinostart des Watchmen-Films kam im März 2009 Watchmensch heraus, eine Comic-Parodie und Satire auf die Geschichte hinter Watchmen. Eigentlich sollten die Rechte an der Serie an Alan Moore und Dave Gibbons zurückkehren, sobald sie nicht mehr gedruckt wurde, aber weil das nie der Fall war, blieben die Rechte bei DC Comics. Man kann sagen: Der Erfolg von Watchmen war Alan Moores Fluch. Daher konnte DC auch gegen seinen Willen eine Film-Adaption produzieren und Prequel-Comics herstellen lassen.

Watchmensch, von Rich Johnston geschrieben und von Simon Rohrmüller gezeichnet, umfasst nur 24 Seiten in Schwarzweiß und orientiert sich grob an der Story und sehr genau am Stil seiner Vorlage, nur dass es dabei nicht um Krieg und Frieden oder die Conditio humana geht, sondern um die Missstände in der Comicbranche.

Es beginnt mit einem Smiley-Button im blutigen Rinnstein, nur dass dieser Smiley eine Kippa und Schläfenlocken trägt. Der Erzähler und Held ist Spottyman, ein Rorschach-Verschnitt, der aussieht wie ein orthodoxer Jude (aber keiner ist). Er untersucht den Mord an Krusty dem Clown (Krustofski). Er findet in seinem Schrank ein „Black Dossier“ und konfrontiert die Anwälte Nite Nurse (statt Nite Owl), Ozyosbourne (statt Ozymandias) und Silk Taker (statt Silk Spectre) damit.

Das Black Dossier ist eine Anspielung auf den gleichnamigen Sonderband der League of Extraordinary Gentlemen. Moore hat die Serie zunächst bei Wildstorm verlegen lassen, einen Verlag, den DC dann gekauft hat. Das Black Dossier ist noch bei DC erschienen, aber der Verlag hat es aus fadenscheinigen Gründen nicht außerhalb der USA verkaufen lassen. Glücklicherweise hat Moore die Rechte an der Serie behalten dürfen, aber er fühlte sich von DC verfolgt und bestand darauf, nichts mehr mit dem Verlag zu tun zu haben. In Watchmensch wird diese Regelung die „ABC-Firewall“ genannt (nach Alan Moores Label America′s Best Comics).

Spottyman

Spottyman statt Rorschach.

Der Drahtzieher der Verschwörung in Watchmensch ist Dr. Manhattan „Mr. Broadway“, ein Mann im Anzug ohne Hose und mit blauer Haut, seit ein Farbeimer auf ihn gefallen ist. Er arbeitet, bzw. steht für DC Comics und hat 1938 von Jerry Siegel und Joe Shuster die Rechte an Superman für 130 Dollar gekauft und später Alan Moore um seine Rechte betrogen, auch für dessen V for Vendetta. Er lässt den Watchmen-Film produzieren und ist nur interessiert am Merchandise, will aus Rorschach ein Happy Meal machen. Spottyman versammelt die anderen und es kommt zum Showdown in Ozyosbournes Haus in der Antarktis.

Mr. Broadway

Firewall-System: Mr. Broadway erklärt seinen Plan.

Am Ende wird ein riesiger Alan-Moore-Klon zur Watchmen-Premiere nach New York teleportiert, wo er nicht nur viele Menschen tötet, sondern auch einen Sinneswandel von Comicverlagen im Umgang mit den Autoren und Zeichnern herbeiführt: Superman wird gemeinfrei, Marvel zahlt an Jack Kirbys Erben enorme Tantiemen, Len Wein wird für Wolverine entschädigt, Steve Ditko vom Vatikan heiliggesprochen. Doch nicht Ozyosbourne ist dafür verantwortlich, sondern Spottyman. Er wollte den Wandel in der Branche herbeiführen. Die anderen wenden sich daraufhin der Musikbranche zu, wo angeblich den Anwälten die Rechte gehören.

Mr. Broadway

Blaue Farbe geht nie wieder raus: Die Entstehung von Mr. Broadway.

Watchmensch ist eine böse Abrechnung mit den Machenschaften großer Comic-Verlage, es steckt voller Anspielungen auf die Popkultur und hat auch deutliche Anleihen bei den Simpsons: Der Zeitungshändler Bernie wird zum „Comic Book Guy“, der sich weigert, Mangas zu verkaufen. Am Ende greift ein Seymour-artiger Comicleser zu Watchmensch und der Kreis schließt sich.

Leider ist der Comic vergriffen und auch nicht digital bei Comixology verfügbar. Eine Vorschau gibt es im Internet Archive.

Alan Moore

Alan Moores Klon verwüstet New York.

Watchmen: Director’s/Ultimate Cut (2009)

Watchmen Poster

Warner Bros.

Watchmen galt lange als unverfilmbar. Es ist ein Werk, das so sehr an das Medium Comic gebunden ist, dass die Übertragung in ein anderes Medium einen großen Verlust bedeuten würde. Andererseits ist Watchmen nie nur ein Comic gewesen, sondern mit seinen Paratexten, den Auszügen aus Büchern (z. B. Under the Hood), Zeitungsartikeln, Briefen und Akten immer auch schon ein Werk, das in andere Medien ausstrahlt.

2009 hat Regisseur Zack Snyder das scheinbar Unmögliche gewagt und mit seinem Film gespaltene Reaktionen hervorgerufen. Die einen lobten die Werktreue, die Visualität, die Effekte, die anderen kritisierten die Komplexität, die explizite Gewalt und die Abweichungen von der Vorlage. Der Film war kein Kassenerfolg, er spielte nur wenig mehr ein, als er gekostet hat.

Was viele nicht wissen: Die Kinofassung ist deutlich kürzer als der Film, den Zack Snyder gedreht hat. Der Director’s Cut ist erst zehn Jahre später in Deutschland erschienen. Darin sind nicht nur 24 Minuten mehr Filmmaterial zu sehen. Im Ultimate Cut wurde auf Tales of the Black Freighter integriert, ein 26-minütiger Zeichentrickfilm, der den Comic-im-Comic adaptiert. Außerdem gibt es als Bonus eine 38-minütige Mockumentary zu Under the Hood.

Der perfekte Vorspann

Snyder hat also nicht nur Watchmen verfilmt, er hat das Werk so umfassend wie möglich in Film übersetzt. Und das ist ihm überwiegend gelungen. Das zeigt sich bereits an der ersten Seite. Der Zoom vom Button aufwärts zur Wohnung des Comedian bietet sich für eine Kamerafahrt an, die dank digitaler Technik perfekt umgesetzt ist. Der Vorspann, der die Geschichte der Minutemen sowie des 20. Jahrhunderts in mehreren Slow-Motion-Einstellungen und zu Bob Dylans „The Times They Are A-Changin'“ erzählt, ist ein Meisterwerk der Verdichtung und einer der effektivsten Vorspanne überhaupt.

Watchmen kommt ohne Stars aus, schafft es aber trotzdem, mit einer perfekten Besetzung zu überzeugen, allen voran Jackie Earle Haley als Rorschach und Jeffrey Dean Morgan als Comedian. Die Kostüme der Helden sind, wie bei Superheldenverfilmungen üblich, weniger grell und modernisiert, um unfreiwillige Komik zu vermeiden. Snyder wählt insgesamt eine viel dunklere Optik als das Comic mit seiner grellen Kolorierung, wie sie in den 80ern üblich war.

Ein alternatives Ende

Bei aller Werktreue muss der Film, wie jede Adaption, Änderungen vornehmen. Was man Snyder vorwerfen kann, ist oft ein Mangel an Subtilität. Eine nicht nachvollziehbare Entscheidung ist etwa, dass die Helden sich selbst als Gruppe „Watchmen“ nennen. Im Comic kommt dieser Begriff allein in den Graffiti „Who watches the Watchmen?“ vor – er ist keine Eigenbezeichnung.

Der auffälligste Unterschied ist das Ende des Films: Während im Comic Ozymandias ein falsches Alien erschafft, das er nach New York teleportiert, um mit einem gemeinsamen Feind die Menschheit zu vereinen, missbraucht er im Film Dr. Manhattan, um in mehreren Metropolen auf der Welt Explosionen auszulösen und ihn als Verantwortlichen vorzuschieben. Das ergibt aus erzählökonomischer Sicht Sinn, denn man muss nicht weiter ausholen, um die Erschaffung des Aliens zu erklären.

Außerdem war der Alien-Plot von Anfang an umstritten. Da die Idee zu sehr an die Outer-Limits-Episode „The Architects of Fear“ erinnerte, wollte DC-Redakteur Len Wein Alan Moore dazu bringen, davon abzulassen. Wenn überhaupt kann man Moore dafür kritisieren, dass dieser Teil seiner Geschichte weit hergeholt ist und zu sehr als Mad-Scientist-Pulp-Fiction aus dem sonst ambitioniertem Werk herausragt.

Übertriebene Gewalt

Was man bei Snyder kritisieren kann, ist seine Neigung, Actionszenen zu übertreiben. Wenn Gewalt angewendet wird, ist sie noch drastischer als im Comic. Snyder rechtfertigt sich damit, dass er ungeschönt die Auswirkung von Gewalt zeigen will, aber nachdem Dr. Manhattan Menschen explodieren lässt, trägt es nichts zur Geschichte bei, auch noch ihre Überreste zu zeigen, die an der Decke hängen.

Störend wird das gerade in der Szene, in der Rorschach den Kindesmörder tötet, denn da geht der Comic subtiler vor: Statt ihm den Schädel mit einem Beil zu zerhacken, gibt Rorschach dem mutmaßlichen Mörder eine Säge, steckt sein Haus an und wartet, ob er es schafft zu entkommen.

In Karnak greifen Rorschach und Nite Owl Ozymandias gleich mehrfach an, während im Comic Bubastis dafür sorgt, dass sie sich nicht mehr demütigen lassen müssen. Hier versucht aber Snyder, die Dialoglastigkeit seiner Story mit Action aufzulockern.

Eine andere Szene wiederum ist zwar drastischer, ergibt aber mehr Sinn: Als Figures Komplizen Rorschachs Zellentür aufsägen wollen und einer von Rorschach an die Tür gefesselt wird, sägt der andere ihm die Arme ab. Das ist zwar blutiger, aber zweckmäßiger, um an das Schloss heranzukommen. Bei Moore sticht er ihn bloß ab, sodass der Tote immer noch am Gitter hängen bleibt.

Menschelndes im Director’s Cut

Der Director’s Cut enthält weitgehend für die Handlung entbehrliche Szenen, wie etwa die Suche nach Dr. Manhattan auf dem Mars und das Verhör mit Laurie (die im Comic gar nicht vorkommen), andere aber transportieren viel von den menschlichen Aspekten des Comics: Es sind die Szenen am Zeitungsstand sowie die Ermordung von Hollis Mason. Letztere ist dem Comic nachempfunden, indem Bilder von Nite Owls ehemaligen Schurken gegengeschnitten sind, sodass sich Hollis zum letzten Mal in seiner alten Rolle bewähren darf. Wenn er mit der Nite-Owl-Statue erschlagen wird, muss aber auch hier Snyder mehr Schläge als nötig zeigen. Und auch der Entschluss der Knot-Tops, Hollis zu töten, passiert viel zu schnell.

Die Tales of the Black Freighter, die höchstens allegorisch mit der Handlung zu tun haben, stören im Ultimate Cut jedoch den Filmfluss und verlängern den Film unnötig. Hier erweist sich zu viel Werktreue als Problem, weil im Comic die Binnenerzählung und die Handlung ineinandergreifen und zum Teil parallel stattfinden. Im Film gibt es aber nur ein Nacheinander, sodass der Bezug der Animationsszenen sich nicht direkt erschließt.

Insgesamt ist daher eher der Director’s Cut (ohne die integrierten Black Freighter-Szenen) zu empfehlen statt des Ultimate Cuts (mit allem). Aber für Ungeduldige tut es auch die Kinofassung mit 162 Minuten. Wer den Film beim ersten Schauen nicht mochte, sollte ihm eine zweite Chance geben. In jedem Fall hilft es, die Vorlage zu kennen, weil man dann besser vergleichen kann, welche Änderungen gelungen sind. Aber auch so funktioniert der Film sehr gut, auch wenn er zuweilen sogar überambitioniert erscheint. Man muss den Film nicht mögen, aber seine Leistung geht weit über „gut gemeint“ hinaus.

Watchmen #12: A Stronger Loving World

watchmen #12 cover

DC Comics

Der Zeiger der Uhr erreicht die Zwölf. Die Doomsday Clock schlägt Armageddon. Lag auf dem gelben Smiley-Button einst ein Spritzer Blut (Watchmen #1), fließt es jetzt in Strömen übers gelbe Zifferblatt. Aus dem Madison Square Garden ragen die Leichen der Konzertbesucher, die „Pale Horse“ und „Krystalnacht“ sehen wollten. Der letzte apokalyptische Reiter hat sein Werk vollbracht: Massenmord. Auf sechs Splash Pages wird dargestellt, wie Tod und Zerstörung über New York gebracht wurden, alle Einwohner, die als Nebencharaktere eingeführt wurden (Bernie & Bernie, die Malcolms, die Polizisten), liegen tot auf der Straße, aus dem Institute for Extraspacial Studies ragt die Kreatur mit ihrem Auge und ihren Tentakeln, zu groß, um auf eine Seite zu passen. Das Ereignis sprengt jeden Rahmen. So groß die Bilder der Seite auch sind, man sieht immer nur kleine Ausschnitte der ganzen Katastrophe.

watchmen #12

Nach Mitternacht: Jon und Laurie im zerstörten New York.

Dr. Manhattan und Laurie treffen am Schauplatz ein, dann teleportiert Jon sie in die Antarktis. Ozymandias versucht, Dr. Manhattan zu desintegrieren, aber es gelingt ihm nicht (nur Bubastis stirbt). Laurie versucht, Ozymandias zu erschießen, aber er fängt die Kugel und setzt Laurie außer Gefecht.

watchmen #12: Ozymandias

Seht meine Werke, Mächt’ge, und erbebt: Ozymandias bringt den Weltfrieden.

Ozymandias zeigt ihnen auf seinen Monitoren, was seine Aktion weltweit bewirkt: Die Menschheit solidarisiert sich mit den Opfern solidarisieren, Feinde werden zu Freunden. Die anderen fünf Helden sehen die Welt mit seinen Augen, durch das vielstimmige Mosaik, in kleinen Ausschnitten, aber facettenreich genug, um das Ausmaß zu begreifen.

watchmen #12: Ozymandias

Geschafft: Ozymandias durchschlägt den Gordischen Knoten.

Ozymandias jubelt: „I did it!“ In diesem Panel sieht man im Hintergrund das Bild von Alexander, wie er den Gordischen Knoten durchschlagen hat. „All the countries are unified and pacified.“ Es ist die unkonventionelle, aber brachiale Lösung eines komplexen globalen Problems. Und es hat einen hohen Preis: Der Held wird zum Schurken, er nimmt einen Massenmord in Kauf, um einen größeren zu verhindern, und er stellt Frieden durch Betrug her, wodurch er fragil erscheint, weil er das Risiko eingeht, dass der Betrug auffliegt.

Tatsächlich könnte Dr. Manhattan ihn zur Rechenschaft ziehen. Aber als Ozymandias ihm und den anderen Helden vorführt, dass sie es nicht tun können, weil sie sonst den Weltfrieden gefährden würden, lassen sie von ihm ab.

watchmen #12: Rorschach

Rorschach im Zeichen der Liebenden.

Nur Rorschach bleibt Idealist und will zurück in die USA, um die Menschen zu informieren: „No. Not even in the face of Armageddon. Never compromise.“ Ozymandias ist davon nicht beeindruckt: Rorschach sei kein verlässlicher Zeuge. Da er selbst ein Krimineller sei, würde man ihm kaum Glauben schenken.

Aber Jon geht auf Nummer sicher: Er hält Rorschach auf und tötet ihn. Dazu zieht Rorschach sogar die Maske aus und fordert ihn dazu auf. Auch er hat seine aussichtslose Lage erkannt. Seine Kompromisslosigkeit läuft auf ein Ganz-oder-gar-nicht hinaus. Er kann das Verbrechen nicht ungesühnt lassen, also muss er sterben. Damit zeigt sich aber auch, dass Rorschach, der anfangs noch den verlorenen Seelen New Yorks die Rettung versagt hat, trotzdem Vergeltung für die Toten will. Und auch wenn für ihn sonst der Zweck die Mittel heiligt, gilt das hier nicht mehr, weil das Mittel in diesem Fall kein Verbrechen rächt, sondern das Verbrechen ist, das einen Krieg verhindern kann. Am Ende ist Rorschach ein ehrlicher Krieg lieber als ein unehrlicher Frieden.

Analog zu seiner Maske bleibt von Rorschach nichts als ein Blutfleck im Schnee übrig. Zugleich hat Dr. Manhattan, obwohl ihm das Leben heilig ist, kein Problem mit dem Mord an Rorschach, weil es das kleinere Übel ist.

Laurie und Daniel trösten einander, ihr Schatten erinnert wieder nicht nur an die „Hiroshima lovers“, sondern auch an Rorschachs Muster auf der Maske, den Rorschach-Test und den Schatten seiner Mutter mit ihrem Freier.

watchmen #12: Daniel & Laurie

Liebende im Zeichen von Armageddon: Daniel und Laurie.

Als Jon die beiden nackt nebeneinander schlafen sieht, freut er sich für sie und sucht Ozymandias auf. „Human affairs cannot be my concern“, sagt er. „I’m leaving this galaxy for one less complicated.“ Er will neue Menschen machen. Wie schon bei „Gordian Knot“ erfüllt sich der Name des Taxi-Unternehmens „Promethean“ in Handlung.  Später hat es ein neues Management: Es gibt einen neuen Gott, der neue Menschen erschafft.

Ozymandias fragt ihn, ob er richtig gehandelt habe. Aber Jons letzte Worte an ihn sind: „Nothing ends, Adrian. Nothing ever ends.“ Adrian fragt ihn, was er meint, aber er bekommt keine Antwort mehr. Jon verschwindet.

watchmen #12

Die Liebe zum Comedian hält an: Sally Jupiter.

Jons Satz kann man auf zwei Arten verstehen: Alles geht weiter und alles wiederholt sich. Ersteres bewahrheitet sich später, wenn Sally Jupiter nach dem Besuch von Laurie und Daniel das Bild des Comedians küsst. Ihre Liebe zu ihm hält weiter an.

watchmen #12: Seymour & Smiley

Offenes Ende: Was wird aus Rorschachs Tagebuch?

Letzteres erfüllt sich auf der letzten Seite, wenn Seymour nach Rorschachs Tagebuch greift. Es ist ein offenes Ende, bei dem nicht klar wird, ob das Tagebuch publiziert wird und was die Auswirkung davon sein wird. Immerhin ist der New Frontiersman ein rechtes Hetzblatt, das Verschwörungstheorien verbreitet. Es ist mindestens genauso unglaubwürdig wie Rorschach selbst. Zumal die Authentizität des Tagebuchs nur schwer zu beweisen sein dürfte.

Allerdings ist da auch das Smiley-Symbol auf Seymours T-Shirt, das mit Ketchup befleckt so aussieht wie der Button des Comedian nach seinem Tod. Der Kreis schließt sich. Und das Symbol deutet weiteres Blutvergießen voraus. Nichts wird aufhören, weil alles in Zyklen wiederkommt: Frieden und Krieg, Verbrechen und Gerechtigkeit, Schurken und Helden – alles ist dem Fluch der Ewigen Wiederkehr unterworfen.

Am Ende ist alles nicht nur im Gleichgewicht, sondern es ist auch egal, wie die Geschichte endet, denn das Ende ist immer gleich. Das Schlusszitat von John Cale aus dem Song „Sanities“ lässt zynisch auf den Frieden blicken:

„It would be a stronger world, a stronger loving world, to die in.“

Selbst der Frieden ändert nichts an dem Grundproblem der Welt, dass alles und jeder sterben muss. In letzter Konsequenz macht es keinen Unterschied, ob Krieg oder Frieden, es läuft alles auf nichts hinaus, die große Gleichmacherei. Auch den Menschen in New York dürfte es egal sein, warum sie gestorben sind: ob wegen einer Atombombe oder wegen eines Fake-Aliens.

Das ist die nihilistische Pointe von Watchmen. Wie wichtig ist es, in was für einer Welt wir sterben? Das ist auch die moralische Frage, die die Helden entzweit und mit der die Leser allein zurückgelassen werden. Wir sind nicht nur Wächter, wir sind Richter. Das Urteil bleibt uns überlassen. Aber das Urteil wird wirkungslos bleiben. Auch hier sind wir – wie die Superhelden in Watchmen – bloß zum tatenlosen Zusehen verdammt und in unserer realen Welt denselben Zwängen unterworfen.

>> Watchmen-Bibliografie

Watchmen #11: Look On My Works, Ye Mighty

watchmen #11 cover

DC Comics

Ein nahezu weißes Cover, bis auf ein kleines buntes Stück: ein Schmetterling zwischen Blumen und Pflanzen und einem Marienkäfer. Auf der ersten Seite offenbart sich das Bild als kleiner Ausschnitt einer riesigen Glaskuppel, die in einer Schneelandschaft steht und einen Garten beherbergt. Er ist Teil von Karnak, Adrian Veidts (Ozymandias) Refugium in der Antarktis. Ein Stück Paradies, ein Mikrokosmos in der tödlichen Eiswüste. Der kleine Ausschnitt in der Glaskuppel hat die Form des Blutspritzers auf dem Smiley-Button des Comedians (Watchmen #1).

Garten von Karnak in der Antarktis

Nur durch eine Schicht Glas vor dem Kältetod getrennt: der Garten von Karnak.

Veidt schaut auf die vielen Monitore vor sich (siehe Watchmen #10) und denkt über diese Methode nach: Der Autor William S. Burroughs habe sie mit seiner Cut-Up-Technik vorweggenommen, mit der er Wörter und Bilder umgestellt hat, um sie einer rationalen Analyse zu entziehen und unbewusste Sicht auf die Zukunft zu bekommen. Veidt sieht in diesem Mosaik auch Parallelen zu abstrakten impressionistischen Gemälden und zu schamanistischen Eingeweideschau. „… an emergent worldview becomes gradually discernible amidst the media’s white noise.“

Ozymandias

Mosaik mit Blick in die Zukunft: Ozymandias.

Zunächst aber sieht Ozymandias, wie Nite Owl und Rorschach auf Karnak zufliegen. Veidt lädt in der Zwischenzeit seine drei Diener in den Garten ein, vergiftet sie mit Wein und öffnet die Kuppel, wodurch der Garten stirbt. Veidt erzählt dabei seine Lebensgeschichte: Er ist ein Kind aus reichem Hause, das sein Vermögen verschenkt hat, um auf den Spuren Alexanders durch die Welt zu ziehen und sich sein Vermögen selbst aufzubauen. Er ist ein Selfmade-Man, der nach dem Vorbild Alexanders Frieden stiften und die Welt vereinen will.

Ozymandias Origin

Auf den Spuren Alexanders des Großen: Ozymandias erinnert sich.

Man sieht in den Rückblenden Veidt immer nur von hinten, meist im Schatten, ein schwarzer Umriss, als würde er bereits die Toten am Ende des Kapitels vorwegnehmen. Zugleich erscheitnt er als eine Art Leerstelle, in die sich der Leser selbst einfügen kann. Frei nach Scott McCloud: Je abstrakter das Bild, desto größer die Identifikationskraft mit der dargestellten Figur.

watchmen #11

Alexander und der gordische Knoten.

Ozymandias erzählt auch die Sage vom Gordischen Knoten nach, als Alexander das größte Rätsel der Antike mit einem Schwerthieb löste. Ein Gemälde der Szene hängt in Karnak. Alexanders Schnitt ist eine Art Cut-up-Technik avant la lettre. In diesem Symbol fügen sich im Nachhinein einige Anspielungen zu einer Reihe: „Gordian Knot“ heißt auch die Schlosser-Firma, die Daniel Dreiberg das Türschloss austauscht, nachdem Rorschach bei ihm einbricht. Die Gang, die Hollis Mason tötet (Watchmen #8), nennt sich „Knot Tops“ (nach den Haarknoten), die Freundin der Taxifahrerin Joey gehört auch dazu, sie versucht später Joey ein Buch über Beziehungen zu geben, das den Titel „Knots“ trägt. Doch Joey zerreißt das Buch: Hier wird das Cut-up wörtlich genommen, denn es entstehen Textschnipsel, allerdings in keiner neuen Konstellation, sondern im Chaos. Die gordische Lösung bedeutet auch das Zerreißen von sozialen Bindungen. Und für Ozymandias wird sie zum Massenmord.

watchmen #11

Die gordische Lösung: „Knots“, ein Buch über Beziehungen, wird zerrissen.

Als Nite Owl und Rorschach Veidt überwältigen wollen, wehrt er sie ab, gesteht seine Morde und erklärt ihnen seinen Plan: Er hat eine riesige Kreatur gezüchtet, die er nach New York teleportieren will, um die Menschen glauben zu lassen, dass sie von einem Alien aus dem All heimgesucht werden. Der gemeinsame Feind soll die Weltmächte vereinen. Millionen müssen sterben, um Milliarden vor dem drohenden nuklearen Holocaust zu retten. (Die Idee dazu hat Alan Moore der Outer Limits-Episode „The Architects of Fear“ entlehnt, worauf in Watchmen #12 angespielt wird.)

watchmen #11

Am Ende der Welt zum tatenlosen Zusehen verdammt: Rorschach und Nite Owl.

Nite Owl und Rorschach wollen das verhindern, aber es ist bereits zu spät. Anders als andere Superschurken erklärt Ozymandias nur seinen Plan, weil es keine Chance mehr gibt, ihn aufzuhalten. Die Superhelden sind machtlos. All ihre Mühe, den Fall zu lösen und den Täter zur Rechenschaft zu ziehen, die Reise in die Antarktis, erweisen sich als vergeblich. (Das unfreiwillige Opfer von Hollis Masons Tod, das durch Rorschachs Befreiung ausgelöst wurde, erscheint noch sinnloser.) Ihnen bleibt nichts anderes als staunendes Schweigen. Am anderen Ende der Welt sind sie zum tatenlosen Zusehen verdammt.

watchmen #11

Bezieungskonflikte auf der Straße in New York

Zugleich sehen wir Menschen in New York auf der Straße: Gloria Long spricht mit ihrem Mann, dem Psychoanalytiker Malcolm (siehe Watchmen #6). Sie hat ihn verlassen, will zu ihm zurückkehren, aber sie vermisst die Person, die er einst war: „I can’t live with someone who feels driven to help hopeless cases, then lets their misery affect our lives.“

Inzwischen kommt es zum Streit eines anderen Paares: Joey stößt ihre Ex-Freundin zu Boden und tritt auf sie ein. Malcolm will eingreifen, aber Gloria hält ihn zurück. „Gloria, please“, sagt Malcolm. „I have to. In a world like this … I mean, it’s all we can do, try to help each other. It’s all that means anything …“ Der Nihilist entdeckt die Nächstenliebe als letzten verbliebenen Wert in sich. Gloria aber bleibt hart, sie droht ihm, ihn zu verlassen, wenn er sich in den Streit einmischt. Er aber rechtfertigt sich: „Gloria … I’m sorry. It’s the world … I can’t run from it.“ Dann setzt er sich für die Frau am Boden ein. Auch einer der vorbeifahrenden Polizisten, die die Szene mitansehen, will nicht stehenbleiben, um seine Pflicht zu tun, aber der andere insistiert und die Polizei greift ein.

watchmen #11

Bernie und Bernie finden zueinander im Tod.

Gleichzeitig erfährt der Zeitungshändler, dass der Junge neben ihm Bernie heißt – also wie er selbst. Aber der Junge tut das als bedeutungslos ab. Die meiste Zeit habe er nur am Zeitungsstand gesessen, weil die Aufladestation warm ist. Bernie hat die meiste Zeit ohnehin nur Selbstgespräche geführt. Nur in einer Sequenz hat der alte Bernie dem jungen seine Mütze und das Comicheft geschenkt. Der drohende Weltkrieg hat in ihm die Nächstenliebe geweckt.

Jetzt wiederholt sich die Geschichte in größerem Ausmaß: Als das Alien im benachbarten „Insitute for Extraspacial Studies“ eintrifft, fallen sich die beiden kurz vor ihrem Tod in die Arme. In dieser letzten Sequenz spiegeln sich die „Hiroshima lovers“, das Graffito an der Wand, das einen Schattenriss eines Paares zeigt und an die Toten nach dem Atombombenabwurf erinnert.

Das Zitat von Percy Bysshe Shelley aus dem Gedicht Ozymandias schließt das Kapitel:

„My name is Ozymandias, king of kings:
Look on my works, ye mighty, and despair!“

Das Zitat ist aus dem Kontext gerissen. In dem Gedicht ist es eine Inschrift auf einer zerbrochenen Ramses-Statue, die in der Wüste liegt. Die Statue ist ein Relikt einer längst vergangenen Zeit, der Spruch ist in der Gegenwart nur noch ein Ausdruck von Vergänglichkeit und Ohnmacht.

Im Kontext von Watchmen gewinnen die Werke des Ozymandias wieder an Signifikanz: Sie nehmen wieder eine furchterregende Dimension an, die die Menschen zur Verzweiflung bringen, und zwar indem sie massenhaften Tod verbreiten. Das Gedicht endet mit den Worten:

Nothing beside remains. Round the decay
Of that colossal wreck, boundless and bare
The lone and level sands stretch far away.

Das Gedicht und Watchmen gehen eine Verbindung ein: Während im Gedicht zwischen dem Wort und der Gegenwart eine Diskrepanz besteht (Machtanspruch vs. Verfall und Wüste), fallen sie bei Watchmen zusammen (Macht führt zur Zerstörung) und bekommen eine Dimension, die weit über das einst Gemeinte hinausgeht. Ozymandias‘ Wüste der Antarktis wird zur Verwüstung in New York.

>> Watchmen-Bibliografie

Watchmen #10: Two Riders Were Approaching …

watchmen #10 cover

DC Comics

Auf dem Radar erscheinen zwei Flugzeuge: Air Force One und Air Force Two, Präsident Nixon und der Vizepräsident kommen zu einer Militärbasis, die in einem Berg untergebracht ist. Es herrscht Defcon 2, der zweithöchste Alarmzustand, kurz vor dem Ausbruch des Nuklearkriegs. Nixon trägt ein Gerät bei sich, mit dem er wahrscheinlich die Atombomben abfeuern könnte. „Two Riders were approaching“, lautet der Titel dieser Watchmen-Ausgabe. Die beiden Präsidenten wirken wie zwei Reiter der Apokalypse.

Auch andere Todesboten deuten sich an. Im Madison Square Garden ist das Konzert von „Pale Horse“ bereits ausverkauft, sie treten auf in Begleitung der Band „Krystalnacht“, wie auf Plakaten zu lesen ist, gleich neben Rorschachs Botschaft „The End is Nigh“ (Seite 5).

watchmen #10

Zukunft? Welche Zukunft. Nite Owl und Rorschach.

„Future? What future?“, fragt Nite Owl Rorschach, man stehe kurz vor dem Dritten Weltkrieg.  Rorschachs Rat: Wenn man am Abgrund hängt, sollte man nie hinunterschauen. Rorschach holt sein Ersatzkostüm ab, findet dann mit Nite Owl heraus, dass Adrian Veidt (Ozymandias) hinter der Verschwörung gegen Superhelden steckt und möglicherweise den Ausbruch des Krieges plant.

watchmen #10

Pyramid Deliveries schickt Menschen in den Tod.

Auf Adrian Veidts geheimer Insel feiern die Wissenschaftler und Künstler ihren Abschied und werden auf einem Schiff von Pyramid Deliveries in die Luft gejagt. In der Zwischenzeit betrachtet Veidt von Karnak aus, seiner Basis in der Antarktis, das Weltgeschehen auf zahllosen Fernsehern und überlegt, wo er angesichts des Kriegs investieren soll. Er wird zum Wächter, der über die Wächter wacht. Aber er nimmt auch eine Perspektive ein, die der des Lesers von Watchmen entspricht: Auch wir sehen die Comicseiten so, wie er die Bildschirme sieht, mehrere Bilder auf einmal, angeordnet in Rastern, während parallel verschiedene Handlungen laufen. Wieder werden wir auf unsere Beobachter-Rolle hingewiesen, nur diesmal sehen wir, wer noch zuschaut.

watchmen #10

Who Watches the Watchman? Ozymandias in Karkak.

Aus den Briefen im Anhang geht hervor, dass Veidt sich kurz zuvor noch Gedanken über neue Action-Figuren seiner Ozymandias-Reihe gemacht hat: „ethically very uncertain about Rorschach, Nite Owl and Moloch“. Er schlägt lieber eine Armee von Terroristen vor. „More militaristic flavor will sell better“, lautet sein zynisches Urteil. Man solle solange Vorteil aus der Kriegsstimmung ziehen, solange es geht.

Im Widerspruch dazu steht das Manuskript zur „Veidt Method“, in dem es heißt, man sei Teil eines größeren sozialen Organismus und man könne, wenn man sich selbst verbessere, die Welt positiv beeinflussen und Verantwortung zu übernehmen. Von einem Kriegsprofiteur klingt das verlogen, aber wie sich noch herausstellen wird, übernimmt Ozymandias tatsächlich auf seine Weise Verantwortung für die Welt, auch wenn er dafür den Tod vieler Menschen in Kauf nimmt.

Seine Schwäche für die alten Ägypter deutet auch eine Faszination für den Todeskult an: Der Tod sei für sie nur eine Reise gewesen, sagt Nite Owl (Seite 16). Und Rorschach ergänzt später: „Ancient pharaohs looked forward to end of the world: believed cadavers would rise, reclaim hearts from golden jars“ (Seite 20). Die beiden fliegen in die Antarktis, um Veidt zu konfrontieren.

Auch Rorschach weiß, wie er in seinem letzten Tagebucheintrag schreibt, dass er mit Nite Owl seinem möglichen Tod entgegengeht. Veidt ist ihnen überlegen, die Antarktis ist ein lebensfeindlicher Raum für sie. „For my own part, regret nothing. Have lived life, free from compromise … and step into the shadow now without complaint.“ Rorschach schickt sein Tagebuch dem New Frontiersman, dem er für die ideelle Unterstützung dankt, aber da sein Name nicht daraufsteht und Seymour es nur oberflächlich liest, landet es zunächst auf dem Stapel „crank file“.

watchmen #10

Wahnsinn und Mord im Black Freighter. (DC Comics)

Der Held aus dem Black Freighter ist von Rache zerfressen: Als er an seiner Heimatküste ankommt, in der Nähe von Davidstown, erschlägt er, vom Wahnsinn ergriffen,  einen Bankier und seine Frau, als sie sein Floß bemerken. Er zieht die Kleidung des Bankiers an, setzt die tote Frau auf das andere Pferd und reitet nach Davidstown – zwei weitere Reiter, die sich ihrem Ziel nähern.

Der Zeitungsverkäufer kommentiert dazu, dass das Ende der Welt bevorstehe. Als ihm zwei Zeugen Jehovas eine Zeitung abkaufen und ihm daraufhin den Watchtower geben und mit ihm über das Ende der Welt reden wollen, ändert er seine Meinung: „Baloney! End of the world? No way, José!“ Er will Fanatikern nicht die Genutuung geben, hinterher sagen zu können: „I told ya so!“ Die beiden Zeugen radeln davon – wieder zwei Reiter mehr.

watchmen #10

Zwei Reiter im Sturm, aber der Schurke hat nichts zu befürchten.

Schließlich werden Rorschach und Nite Owl, nachdem ihr Schiff in der Antarktis Bruch gelandet ist, zu den zwei ankommenden Reitern, während Ozymandias mit seiner Katze Bubastis sie erwartet. „Everything’s all right.“

Das Zitat aus dem Song „All Along the Watchtower“ von Bob Dylan beschreibt die Szene:

„Outside in the distance a wild cat did growl, two riders were approaching, the wind began to howl.“

Doch auch andere Teile des Textes lassen sich auf Watchmen beziehen. Allerdings ist es nicht der Joker, der die Worte des Comedian spricht, sondern der Dieb:

No reason to get excited
The thief, he kindly spoke
There are many here among us
Who feel that life is but a joke

Auch die Worte von Laurie (Watchmen #9) hallen darin wieder. Allerdings spricht der Dieb auch Hoffnung aus:

But you and I, we’ve been through that
And this is not our fate
So let us not talk falsely now
The hour is getting late

Die Stunde Zwölf bzw. Null rückt auch in dem Song näher. Tatsächlich ist es bereits viel zu spät, wie sich herausstellen wird, um an dem Schicksal noch etwas zu ändern.

>> Watchmen-Bibliografie

Watchmen #9: The Darkness of Mere Being

watchmen 9 cover

DC Comics

Ein Flakon Nostalgia-Parfum fliegt durchs All, das Parfum spritzt heraus. Wieder sehen wir nicht, was ist, sondern was sein wird, allerdings erklärt Dr. Manhattan später: „There is no future. There is no past. Do you see? Time is simultaneous.“ Zeit sei wie ein Juwel, von dem wir bloß eine Kante auf einmal sehen. Wieder sehen wir als Comicleser die Zeit mit seinen Augen. Alles passiert gleichzeitig, nur an anderer Stelle.

Eine Sequenz wiederholt sich zu Beginn: Dr. Manhattan (Jon) bringt Laurie zum Mars. Doch dabei vergisst er, dass Laurie in der Atmosphäre nicht atmen kann, es braucht zwei Seiten, bis er versteht, dass sie droht zu ersticken. Menschliche Grundbedürfnisse sind ihm fremd, das Schicksal der Menschen ihm egal. Aus seiner Sicht ist alles vorherbestimmt: „We’re all puppets, Laurie. I’m just a puppet who can see the strings.“ Trotzdem ist er voller Bewunderung für die Natur und lässt Laurie bei einem Rundflug über den Mars daran teilhaben.

watchmen #9 snowball

Die Schneekugel und das Parfum. (DC Comics)

Jon bringt Laurie dazu, sich zu erinnern. Ihre erste früheste Erinnerung mit ihm zu teilen. Als Fünfjährige sieht sie ihren Eltern, Sally Juspeczyk und Larry Schexnayder, beim Streiten zu (über den Comedian), sie geht ins Wohnzimmer und nimmt die Schneekugel mit dem Schloss vom Fernseher.

„It was like a whole world; a world inside the ball. It was like a little glass bubble of somewhere else. (…) I figured inside the ball was some different sort of time. Slow time.“

Schneekugel

Die Schneekugel zerbricht.

Laurie flieht in diese Fantasie, um dem Konflikt zwischen ihren Eltern zu entgehen. Sie geht davon aus, dass nicht Schexnayder ihr Vater ist, sondern Hooded Justice, der Ex-Freund seiner Mutter. Doch dann wird sie von ihrem Vater erwischt und ausgeschimpft, sie lässt die Kugel fallen und stellt enttäuscht fest, dass nur Wasser darin ist.

In der zweiten Erinnerung ist Laurie 13 Jahre alt und trainiert dafür, die Nachfolgerin ihrer Mutter als Silk Spectre zu werden. Sally verbietet ihr aber, in Hollis Masons Buch Under the Hood zu lesen. Sie empfängt ihre alten Freunde von den Minutemen, dabei lässt der geisteskranke Byron (Mothman) ein Glas fallen und es zerbricht.

Das Glas zerbricht, das Parfum fliegt weiter. (DC Comics)

Dr. Manhattan greift das Bild auf, indem er Laurie fragt, was der Sinn des Kampfes im Leben der Menschen ist: Sie arbeiten, ohne etwas zu erreichen, sie enden nur leer, desillusioniert und gebrochen. Das Leben sei überbewertet, der Mars komme auch gut ohne aus, sogar besser.

laurie & comedian

Laurie revanchiert sich bei Blake. (DC Comics

In den folgenden zwei Erinnerungen geht es um den Comedian: Laurie begegnet ihm zum ersten Mal nach dem ersten und letzten Treffen der Crimebusters. Sally ist wütend auf Blake und bringt Laurie von ihm weg. In der zweiten Erinnerung weiß Laurie bereits, was Blake ihrer Mutter angetan hat und macht ihm Vorwürfe, dass er versucht hat, Sally zu vergewaltigen (Watchmen #2). Als er antwortet „Only once“, schüttet sie ihm ihren Scotch ins Gesicht.

laurie & manhattan

Laurie und Jon vor den Trümmern der gläsernen Festung.

Als Laurie daraufhin die Teile ihrer Erinnerung zusammensetzt und realisiert, dass Blake ihr Vater ist, wirft sie den Nostalgia-Flakon gegen Jons gläserne Festung und beides zerbricht. Jon bildet ein kugelförmiges Kraftfeld um sie herum, um sie vor den Trümmern zu schützen. Für einen Moment sind sie selbst wie Teil einer Schneekugel, während es außerhalb unruhig und chaotisch ist.

Die zusammengesetzte Erinnerung bringt sogar zwei Weltbilder zum Einsturz. Denn daraufhin ändert Jon seine Meinung über das Leben:  Die schiere Unwahrscheinlichkeit der Entstehung von Leben erscheint ihm als thermodynamisches Wunder. Im Moment der Einsicht sehen wir den Mars von oben und erkennen, dass der Krater wie der Smiley des Comedian aussieht. Passend dazu stellt Laurie bereits kurz zuvor fest: „Blake, that bastard, and my m-mother, they … they pulled a gag on me is what they did! My whole life’s a joke. One big, stupid, meaningless …“

Smiley on Mars

Der Smiley auf dem Mars.

Am Ende ist der Smiley auch nur ein Zufall, ein Muster, das wir im Chaos erkennen, wie das Bild eines Rorschachtests. Oder aber der ein Anzeichen dafür, dass alle nur Teil eines viel größeren Witzes sind, den niemand begreift. Das Wunder des Lebens könnte genauso gut bloß Zufall sein wie diese Formation aus Stein und Sand.

Jons Motivation erklärt das Zitat von C.G. Jung am Ende:

„As far as we can discern, the sole purpose of human existence is to kindle a light of meaning in the darkness of mere being.“

Wieder klingt Rorschachs Nihilismus durch (Watchmen #6): Das Sein ist Dunkelheit, wir können bloß versuchen, Licht hineinzubringen, indem wir Sinn stiften. Es ändert aber nichts an der sinnlosen Dunkelheit, die alles umgibt.

In einem Interview im Anhang versucht Sally Jupiter ihre Beziehung zu Blake zu erklären. Dabei widerspricht sie sich selbst. Einerseits erklärt sie, sie hege keinen Groll gegen ihn, andererseits sage sie, sie wolle den Vergewaltigungsversuch nicht rechtfertigen und trotzdem sieht sie sich in einer Schuld: „I felt like I’d contributed in some way.“ Sie sei sich ihrer Gefühle nicht sicher. Das bleibt vielleicht das größte Rätsel von Watchmen: Wie eine Frau, die von einem Mann geschlagen und beinahe vergewaltigt wurde, trotzdem freiwillig intim mit ihm werden kann. Hier versagt die Suche nach einem Sinn. Aber es fällt schwer, diesen Un-Sinn – wie Jon – als Wunder zu sehen.

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Watchmen #8: Old Ghosts

Watchmen #8

DC Comics

Ungewöhnlich für eine Superhelden-Comicserie ist bei Watchmen, dass nie ein Superheld auf dem Cover zu sehen ist. Es gibt hier keine typischen Flug-, Kampf oder andere Heldenposen. Man sieht nicht einmal Menschen, sondern immer nur Objekte, meist aus der Nähe, was einen verfremdenden Effekt hat und Neugier weckt, was es damit auf sich hat.

Eine Ausnahme ist das Cover zum achten Heft: Hier steht Nite Owl mit stolz geschwellter Brust und den Fäusten in der Hüfte. Allerdings: Das Prinzip wird dadurch nicht gebrochen, denn es ist nicht Nite Owl selbst, sondern nur eine vergoldete Figur von ihm, eine Auszeichnung, die ihm zu Ehren verliehen wurde. Eine gerahmte Zeitungsseite im Hintergrund mit der Schlagzeile „Hero retires: Opens own auto business“ erzählt davon, darüber hängt ein Gruppenbild der Minutemen, auf dem Nite Owl in der Mitte in derselben Pose abgebildet ist wie die Statue ihn abbildet.

Hollis Mason & Sally Jupiter

Nostalgia bei Sally und Hollis. (DC Comics)

Bemerkenswert ist auch, dass auf den nächsten zwei Seiten weiterhin nur Objekte zu sehen sind und nicht die Protagonisten, jedenfalls nicht ihre Gesichter. Während Hollis nach langer Zeit wieder mit Sally Jupiter telefoniert, sieht man die beiden nur angeschnitten im Hintergrund oder nur die Hörer in ihren Händen. Im Vordergrund stehen die Statue, das Nostalgia-Parfum, wenn der Hörer im Vordergrund ist, sieht man die Fernseher im Hintergrund laufen, oder man sieht sie auf Erinnerungsfotos aus der Superheldenzeit. Wir sehen, dass Sally sich in ihrem Rest Resort die Fußnägel lackieren lässt und Vitamintabletten zu sich nimmt, während Hollis raucht und Bier trinkt. Hollis selbst wirkt traurig, als er auflegt.

Teufel, Geist und Pirat: Halloween in Watchmen #8.

Teufel, Geist und Pirat: Halloween in Watchmen #8.

Die ersten Menschen, die man sieht, sind die drei Kinder, die sich zu Halloween als Teufel, Geist und Pirat verkleidet haben. Der Geist erinnert an Hooded Justice, der Pirat spielt auf den Black Freighter an und der Teufel trägt eine ähnliche Maske wie Hollis Mason als Nite Owl, sogar der Kragen des Umhangs ist gleich, dazu trägt er einen Halloween-Kürbis (Jack O’Lantern) unter dem Arm – und so einen bastelt Hollis später selbst (Seite 12), womit natürlich wieder der Smiley des Comedian eine neue Form bekommt.

Der Preis von Rorschachs Befreiung

Die Sequenz rahmt die Handlung, in der Daniel und Laurie als Nite Owl und Silk Spectre Rorschach aus dem Gefängnis befreien. Wir sehen, wie sie sich vorbereiten und hinfliegen, aber schließlich befreit Rorschach sich zumindest aus der Zelle selbst, indem er die Insassen dafür instrumentalisiert, die sich an ihm rächen wollen. Er regt sich dabei kaum und muss auch nicht viel tun, weil sich seine Gegner selbst oder gegenseitig töten. Die beiden Mitstreiter erfüllen mit ihren Kostümen und Gadgets kaum eine Funktion, außer dass sie inmitten des Aufstands nur das Fluchtfahrzeug bereitstellen.

Ansonsten ist Daniel bereits die Polizei auf der Spur. Einer der beiden Ermittler hat herausgefunden, dass Daniel Nite Owl ist, und lässt am Ende dessen Haus stürmen. Das Kalenderbild für November deutet die Gefahr bereits an: Es zeigt einen Falken, der einen Spatz in der Luft fängt. Während Laurie von Dr. Manhattan aufgesucht und zum Mars gebracht wird, müssen Nite Owl und Rorschach vor der Polizei fliehen. Doch die mühelos und harmlos erscheinende Aktion fordert ungeahnt hohe Opfer.

In der Zwischenzeit heizt sich am Zeitungsstand die Stimmung gegen Superhelden auf. Eine Bande von Knot Tops gibt Dr. Manhattan die Schuld an dem eskalierenden Kalten Krieg, die Nachricht von Rorschachs Befreiung bringt das Fass zum Überlaufen. Weil Nite Owl verantwortlich ist, will sich die Bande an ihm rächen, aber weil sie ihn mit dem ehemaligen Nite Owl verwechseln, trifft es Hollis Mason. Er hat nicht so viel Glück wie Rorschach.

Watchmen #8: Hollis Mason

Zurück zur alten Form? Nicht ganz. Hollis Mason wehrt sich in seiner alten Rolle.

Seine früheren Heldentaten als Nite Owl werden ihm zum Verhängnis. Genauso wie die Enthüllung seiner Geheimidentität (siehe Under the Hood) und die Namensverwandtschaft mit dem neuen Nite Owl. Als ihn die Gang angreift, sieht man kaum, wie sich der alte Mason wehrt, sondern wie er als junger Mann gegen Verbrecher kämpfte. Er widersteht, indem er in seine alte Rolle zurückfällt, aber am Ende reichen seine Kräfte und Fähigkeiten nicht aus, um den Kampf zu gewinnen.

Die Nite Owl-Statue, die Hollis Mason in Dankbarkeit verliehen wurde, wirft am Ende einen dunklen Schatten auf Masons Gesicht, sie wird zur Maske und zum Mordinstrument, das ihn tötet. Statt dass man den Mord selbst sieht, wird nur gezeigt, wie der Jack O’Lantern zerbricht. Der Mord findet – um es mit Scott McCloud zu sagen – im Rinnstein statt. Und weil das nur mit der Fantasie des Lesers funktioniert, werden wir, die bisherigen passiven „Watchmen“, zu aktiven Mittätern bei diesem Mord. (Ähnlich passiert es bereits im Gefängnis, als Rorschach Big Figure auf der Toilette tötet.)

Watchmen #8: Hollis Masons Death

Die Vergangenheit rächt sich: Hollis Mason wird mit seiner Nite Owl-Auszeichnung erschlagen.

Als am Ende die drei verkleideten Kinder bei Mason auftauchen, werden die Kostüme von Geist, Teufel und Pirat zu Todessymbolen. Der makabere Kinderspaß von Halloween erscheint plötzlich als bitterer Ernst – so wie die Rückkehr ins kostümierte Vigilantentum von Nite Owl und Silk Spectre. Einer der Schläger trägt den Schriftzug „Pale Horse“ auf dem Rücken, jener Band, von der Laurie in Watchmen #7 gesprochen hat und die ihren Namen den apokalyptischen Reitern entnommen haben (Offenbarung, Kapitel 6). Der Reiter auf dem fahlen Pferd steht für den Tod.

watchmen #8: hollis masons death

Hollis Mason ist tot.

Im Schlusszitat aus dem Gedicht „Hallowe’en“ von Eleanor Farjeon heißt es:

„On Hallowe’en the old ghosts come about us, and they speak to some; to others they are dumb.“

Wer ist Falke, wer ist Spatz?

Das Zitat bekommt eine neue Bedeutung auf den folgenden Seiten im Anhang, die einen Auszug aus dem New Frontiersman zeigen, jenem rechten Hetzblatt, das Rorschach liest. „Honor is like the hawk: Sometimes it must go hooded“, lautet die Schlagzeile, darunter stehen die Bilder von Comedian, Rorschach und Nite Owl.

Der Vergleich hinkt, weil ein Falke mit Haube blind ist und dann auch von einem Falkner abgerichtet ist und zur Jagd benutzt wird. Das würde allein den Superhelden entsprechen, die nach dem Keene Act von 1977 der Regierung gedient haben, also Comedian und Dr. Manhattan, aber Rorschach und Nite Owl operieren illegal. Bezogen auf das Kalenderbild wären also die Superhelden die Falken und die Bösen die Spatzen, was ebenfalls nicht aufgeht, weil ein Spatz einem Raubvogel deutlich unterlegen ist.

Der Polizist, der das Kalenderblatt als erster bemerkt, dürfte sich selbst in der Falkenrolle sehen, der sich Nite Owl schnappt, aber das wäre wieder ein schiefes Bild. Tatsächlich ist das einzige unschuldige Opfer in diesem Kapitel aber Hollis Mason. Und die einzigen Falken, die blind jagen, sind die Mitglieder der Top Knots, die ihn töten. Von Ehre aber keine Spur. Das gilt am Ende auch für Nite Owl und Silk Spectre, die zwar versuchen, ihrem zu Unrecht eingesperrten Freund zu helfen, aber dabei eine Kette von Ereignissen in Gang setzen, die sie weder absehen noch kontrollieren können. Das Superheldengeschäft erscheint als so gefährlich, dass man sich fragen muss, ob der Schaden nicht größer ist als der Nutzen.

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Watchmen #7: A Brother to Dragons

watchmen #7 cover

DC Comics

Nicht ohne Grund heißt das Parfum, das in Watchmen ständig beworben wird, „Nostalgia“. Watchmen ist eine Geschichte, die von hinten erzählt wird, in Rückblenden und daher nicht nur von Nostalgie, sondern auch von Melancholie über vergangene, hoffnungsvolle und unbeschwertere Tage handelt. Das Golden Age der Superhelden ist längst vorbei, das Silver Age auch – jetzt gibt es nur noch die Überreste in einem Dunklen Zeitalter, das angesichts der nuklearen Bedrohung zugleich das letzte sein könnte.

Diese Erinnerungen der Helden werden hervorgerufen durch Bilder oder Ereignisse, bei Dr. Manhattan entwickelte sich die Vorgeschichte an einem Foto, bei Rorschach an den Mustern eines Rorschach-Tests. In Kapitel 7 wird Nite Owls Vorgeschichte anders erzählt, nicht mit Rückblenden, sondern nur mit Worten, während Daniel Dreiberg mit Laurie durch seinen Keller läuft, wo seine Kostüme, Gadgets und das Schiff Archie der Illustration der Vergangenheit dienen. Die Geschichte wird nie dem Leser gezeigt, sondern nur aus der sentimental-nostalgischen Sicht von Daniel oder Laurie bewertet.

Die Kreisform, die wieder auf dem Cover aufgegriffen wird, findet sich in dem Glas der Schutzbrille des Nite Owl-Kostüms wieder, in dem sich wiederum die Front des Schiffs Archie spiegelt. Das Kostüm bekommt dadurch eine aktive Beobachterrolle, als würde es das Schiff in Augenschein nehmen, um es wieder zu benutzen. Und tatsächlich hat Daniel ohne bestimmten Anlass die Systeme geprüft, obwohl er seit acht Jahren nicht mehr als Nite Owl aktiv ist. Kostüm und Schiff schauen sich also gegenseitig an, als würden sie miteinander liebäugeln – zugleich kommen sich Daniel und Laurie näher.

Verbessert wird die Sicht der Brille von Laurie, die mit dem Finger einen Streifen Staub von der Brille wischt, dann mit der Hand auch den Staub von Archies Frontscheibe. Und wieder rückt – im übertragenen Sinne – der Zeiger der Doomsday Clock der Zwölf etwas näher.

Zugleich scheint es, als würde das Nite Owl-Kostüm Daniel und Laurie beobachten: Immer wieder füllt diese Nahaufnahme des Brillenglases ganze Panels aus oder wir schauen von außen in das Schiff durch das Glas oder über die Schulter des Kostüms. „Who watches the watchmen?“ – Wir natürlich, die Leser. Aber zugleich beoabachtet auch ein unbekannter Akteur, ein Feind, denn die Paranoia, dass jemand hinter allen Helden her sein könnte, hat sich spätestens seit Rorschach als berechtigt erwiesen. Deshalb denkt Daniel auch zunächst an eine Gefahr, als er aus dem Keller Laurie schreien hört, weil sie aus Versehen den Flammenwerfer eingeschaltet hat.

Die Sicht der beiden auf die Nite-Owl-Gadgets ist sehr unterschiedlich: Während Laurie alles bewundert, den Keller eine „magician’s cave“ nennt, tut Daniel seine Superhelden-Vergangenheit als kindisch ab: „Just a schoolkid’s fantasy that got out of hand. That’s y’know, with hindsight … on reflection.“ Dazu passend sehen wir die Reflexion in der Brille.

Daniel hat sich, beeinflusst von Hollis Mason, einer romantischen Heldenfantasie hingegeben und sie mit seinem Interesse für Vögel und Technik kombiniert. Seine wahre Motivation ist eine ganz prosaische: „I was rich, bored, and there were enough other guys doing it so I didn’t feel ridiculous.“ Wie schon bei Hollis ist das Superheldengeschäft abhängig von anderen, die mitmachen. „Who needs all this hardware to catch hooker and purse-snatchers?“ Superhelden brauchen Superschurken. Für alles andere reicht die Polizei.

Immerhin habe Daniel seinen eigenen Traum gelebt, im Gegensatz zu ihr, sagt Laurie, die nur den Traum der Mutter fortgeführt hat. Daniel vergleicht seine Superheldenzeit zwar mit dem Rauchen, es sei eine schlechte Angewohnheit gewesen, aber zugleich gibt er zu, dass er darin einen sentimentalen Wert sieht.

Als er Laurie die Funktion der Brille demonstriert, die ein Nachtsichtgerät ist, wird sie symbolisch aufgeladen: „No matter how black it got, when I looked through these goggles everything was clear as day.“ Damit stellt Daniel ein Gegengewicht zu dem fatalistisch-nihilistischem Weltbild von Rorschach, bzw. dem von Malcolm Long her (Watchmen #6). Ob man die schwarze Leere sieht, ist nur eine Frage der Einstellung, der Perspektive und der Mittel. Auch Laurie ist begeistert: Es sei, als habe man Superkräfte. Sie versetzt sich in Jon (Dr. Manhattan) hinein, der sogar Neutrinos sehen kann.

Als die beiden den Keller verlassen, sagt Laurie, es müsse toll sein, eine Geheimidentität und einen geheimen Ort, an dem man nicht beobachtet werde. Daniel fühlt das anders: „These days I feel like something’s watching my every move.“ – Und wieder sehen wir das Brillenglas aus der Nähe, in dem sich Daniel spiegelt. Dan wird beobachtet – nicht zuletzt von uns Lesern, den wahren „Watchmen“ in dieser Geschichte.

Beim Fernsehen verfolgen Daniel und Laurie später mit, wie sich die weltweite Krise verschärft, wie die Gesellschaft über Rorschach diskutiert (wir sehen den Comedian-Smiley wieder auf dem T-Shirt von Seymour) und wie Ozymandias öffentlich als Athlet auftritt. Laurie und Daniel kommen sich näher, aber Daniel erweist sich als impotent.

Als die beiden schlafen, hat Daniel einen Albtraum: Er steht der Twilight Lady (einer ehemaligen Superhelden-Kollegin) gegenüber, reißt ihr das Kostüm vom Leib, verliert seins, dann reißt sie ihm die Haut ab und darunter erscheint Nite Owl, während er aus ihr Silk Spectre (Laurie) macht. Als sie sich küssen wollen, geht hinter ihnen eine Atombombe hoch, sie verbrennen zu Skeletten und wir sehen in veränderter Form das Grafitto der „Hiroshima lovers“ wieder.

Daniel erwacht, geht nackt in den Keller und setzt sich die Nite-Owl-Brille auf. Als Laurie zu ihm kommt, sagt er, er fühle sich angesichts des Krieges machtlos und impotent, aber auch die Verschwörung gegen die Helden macht ihn unruhig. Die Brille soll ihm Kräfte verleihen, die er aus sich heraus nicht aufbringen kann.

Und tatsächlich: Erst als die beiden ihre Kostüme anziehen, kommt Dans Selbstvertrauen zurück, und nachdem sie die Bewohner eines brennenden Hauses rettet, haben Dan und Laurie Sex. Archie schießt Flammen. Im entscheidenden Moment davor, sieht Dan Laurie durch die Brille an, während sie  ihn nach dem Lied von Billie Holiday fragt, das er während des Fluges gespielt hat: „You’re My Thrill“ – ein klares Liebesbekenntnis.

Danach fängt Laurie wieder zu rauchen an, obwohl sie kurz zuvor noch mit dieser gefährlichen Angewohnheit aufhören wollte. Sie rechtfertigt sich, dass es eigentlich kein Aufhören geben kann, sondern nur Pausen. Dan gibt zu, dass das Kostüm ihm geholfen hat, und er ist plötzlich optimistisch: „I feel so confident it’s like I’m on fire. And all the mask killers, all the wars in the world, they’re just cases — just problems to solve.“

Die beiden beschließen, Rorschach zu befreien. Die letzten drei Panels zeigen Archie, wie er sich vor den Mond schiebt. Zusammen mit den Wolken bildet er einen Smiley, der Rauch wird zum Zeiger der Uhr – und der Beobachter schaut zurück zu uns.

Das Schlusszitat aus dem Buch Hiob sollte man nicht allzu wörtlich nehmen. In den deutschen Bibelübersetzungen ist weder von Dragen noch von Eulen die Rede: „Ich bin ein Bruder der Schakale geworden und ein Geselle der Strauße„, heißt es in der Lutherbibel 2017, „Straußenhennen zum Freund“ heißt es in der Einheitsübersetzung 2016. Entscheidend ist, dass der von den Menschen Verstoßene sich nur noch unter den Tieren (der Wüste) heimisch fühlt. Der Drache bzw. Schakal könnte für Rorschach stehen, der als Hai und Tiger bereits mit anderen Raubtieren gleichgesetzt wurde (Watchmen #5).

Viel interessanter ist der Kontext der Bibelstelle (Hiob 30, 26-31, Einheitsübersetzung):

Ja, ich hoffte auf Gutes, doch Böses kam, ich harrte auf Licht, doch Finsternis kam. Mein Inneres kocht und kommt nicht zur Ruhe, mich haben die Tage des Elends erreicht. Trauernd gehe ich einher, ohne wärmende Sonne, ich stehe auf in der Versammlung, schreie laut. Den Schakalen wurde ich zum Bruder, den Straußenhennen zum Freund. Meine Haut ist schwarz, von Fieberglut brennen meine Knochen. Zur Trauer wurde mein Harfenspiel, mein Flötenspiel zum Klagelied.

Das Böse und die Finsternis siegen – damit wird das optimistische Ende des Kapitels wieder in Pessimismus verkehrt. Damit wird einem Happy End eine Absage erteilt. Das Gute ist nicht ohne den Preis von Verlusten zu kriegen.

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Watchmen #6: The Abyss Gazes Also

DC Comics

Nach seiner Festnahme (Watchmen #5) sitzt Rorschach (Walter Kovacs) im Gefängnis und lässt sich von dem Psychoanalytiker Dr. Malcolm Long behandeln. Long macht mit ihm einen Rorschach-Test. Die schwarzen Flecken lassen bei Walter Erinnerungen hochkommen, aber er lügt Long an, als dieser fragt, was er sehe: ein Hund mit gespaltenem Schädel wird zum hübschen Schmetterling, ein kopulierendes Paar zu Blumen.

Wieder passieren zwei Dinge zugleich: Wir erfahren Walters Vorgeschichte aus erster Hand, gleichzeitig lesen wir in Malcolm Longs Tagebuch seine Sicht auf den Patienten: Long ist zwar überrascht, wie gestört Kovacs ist, aber er ist optimistisch, ihm helfen zu können und er will sich mit einem Behandlungserfolg einen Namen machen. Long ist fasziniert von seinem Patienten, gleichzeitig ist er ihm nicht gewachsen, weil sein Starren ihn unbehaglich macht.

Walter Kovacs und Malcolm Long (DC Comics)

Walter Kovacs und Malcolm Long (DC Comics)

Long gibt sich freundlich und hilfsbereit, nennt seinen Patienten vertraulich Walter. Aber Walter verachtet Long, weil er das genaue Gegenteil von ihm ist: „Fat, wealthy. Think you understand pain.“ Daraufhin erzählt er ihm seine Entstehungsgeschichte.

Walter wurde allein von einer Mutter großgezogen, die anschaffen ging und ihn geschlagen hat, als sie durch ihn einen Kunden verlor. Er wurde seiner Mutter weggenommen und in ein Heim gebracht (Charlton, wie der Comicverlag von dem DC die Helden gekauft hat, auf denen Watchmen lose basiert). Von anderen Kindern gemobbt, wehrte er sich einmal brutal, indem er einem Jungen eine brennende Zigarette ins Auge drückte und einem anderen ins Gesicht biss.

watchmen #6 nice flowers

Walter und der Schattenriss. (DC Comics)

In einem Aufsatz schreibt der junge Walter in einem Aufsatz über seine Eltern, dass sein Vater Charlie von seiner Mutter wegen politischer Meinungsverschiedenheiten hinausgeworfen worden sei. Der Vater mochte Präsident Truman, die Mutter nicht. Walter bewundert Truman aus Pflichtbewusstsein seinem Vater gegenüber, den er für einen Kriegshelden hält, und weil Truman die Atombombe auf Japan abwerfen ließ und damit Millionen Leben gerettet hat. Damit wird der Präsident zum Vorbild der Zweck-heiligt-die-Mittel-Ethik. Später schildert der junge Walter, wie ihn das Bild von seiner Mutter bei Sex in seine Alpträume verfolgt – der Anblick hat ihn offenbar schwer traumatisiert.

Rorschach-Origin

Das schwarz-weiße Kleid aus Dr. Manhattan-Fasern. (DC Comics)

Mit 16 nahm Walter einen Job bei einem Damenschneider an. Dort fand er 1962 ein Kleid aus dem Stoff, das ein ständig wechselndes, schwarz-weißes Muster hatte. (Eine Erfindung von Dr. Manhattan.) Nachdem die Frau, die das Kleid nie abgeholt hat, vergewaltigt und ermordet wurde, während Nachbarn tatenlos zuschauten, galten für Walter die Menschen als verkommen. Aus Scham dazuzugehören machte sich Walter ein Gesicht, das er ertragen konnte, im Spiegel anzusehen. Er schneiderte sich aus dem Kleid seine Maske.

Watchmen Rorschachtest

Walter sagt, was er beim Rorschach-Test wirklich sieht.

Der Comedian wurde für ihn zum Vorbild, weil er das menschliche Potenzial für Grausamkeit verstand und sich nie davon abwandte. Die Verbrechensbekämpfung ist für Walter eine moralische Pflicht, ein Zwang. Diesem folgte er, als er die Entführung einer Sechsjährigen untersuchte. Als er zum Tatort kam, stellte er fest, dass das Mädchen tot und an zwei Hunde verfüttert worden war. Das war das Ende von Kovacs und die Geburtsstunde von Rorschach. Er tötete den mutmaßlichen Täter, indem er ihn ankettete und ihn mit einer Säge zurückließ, während er sein Haus abbrannen ließ. Niemand kam heraus.

Walter schildert seine Wandlung als große nihilistische Erkenntnis:

„The cold, suffocating dark goes on forever, and we are alone. Live our lives, lacking anything better to do. Devise reason later. Born from oblivion; bear children, hellbound as ourselves; go into oblivion. There is nothing else. Existence is random. Has no pattern save what we imagine after staring at it for too long. No meaning save what we choose to impose.“

Der Rorschachtest wird vor diesem Hintergrund zu einer Sinnsuche im Sinnlosen. Muster werden gesucht, wo nur der Zufall herrscht. Damit wird das Instrument des Psychoanalytikers für nichtig erklärt. Im Gegensatz zu Rorschachs Maske zeigt es nur starre Bilder, in denen man sehen kann, was man will, während die Maske dynamisch bleibt. Zugleich wird damit die Symbolik hinter der Symmetrie, die in Watchmen #5 durchexerziert wurde, hinterfragt. Für Rorschach ist nichts im Gleichgewicht, es ist ein Ideal, das er lediglich anstrebt.

Dr. Malcolm Long glaubt zunächst, dass die Rorschach-Identität Symptom einer Krankheit ist. Trotzdem versinkt er in der Arbeit und vernachlässigt sein Intimleben mit seiner Frau. Nach dieser Erzählung verändert sich seine Sicht.

Hiroshima Lovers

Malcolm Long im Angesicht des Weltendes (DC Comics)

Er wird auf der Straße rassistisch beschimpft, er liest die Nachrichten vom drohenden Atomkrieg, er bemerkt das Grafitto der „Hiroshima lovers„. Er vergrault ein befreundetes Paar, das er mit seiner Frau zuhause empfängt, indem er Rorschachs Geschichte nacherzählt. Er lässt sich von seiner Frau beschimpfen, aber es ist ihm egal:

„Why do we argue? Life’s so fragile, a successful virus clinging to a speck of mud, suspended in endless nothing. Next week, I could be putting her into a garbage sack, placing her outside for collection.“

Am Ende schaut er selbst auf die Tafel des Rorschach-Tests, die er Kovacs gezeigt hat, und bemüht sich, einen Baum darin zu sehen, aber er sieht nur leere, bedeutungslose Finsternis: „We are alone. There is nothing else.“ Das letzte Panel ist ein schwarzes Quadrat, darauf folgt das titelgebende Nietzsche-Zitat:

„Battle not with monsters, lest ye become a monster, and if you gaze into the abyss, the abyss gazes also into you.“

„Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“

Dr. Malcolm Long hat zu lange in den Abgrund geschaut, den Rorschach ihm eröffnet hat, und ist hineingefallen. Der Optimist hat die Sicht des Pessimisten oder gar Nihilisten übernommen. Das „Ungeheuer“ Rorschach (in Watchmen #5 als Hai oder Tiger symbolisiert) hat gewonnen, indem er bloß seine Geschichte erzählt hat, ohne den Psychoanalytiker überzeugen zu wollen. Der Kranke, das ist der Arzt gewesen, jetzt gehört er zu den wenigen Gesunden, die der Wahrheit ins Gesicht blicken: Die wahren Ungeheuer sind die Menschen.

Walter Kovacs hat ohne seine Maske sein Gesicht verloren. Gleichzeitig bringt er auch einen anderen Insassen um seins, als er ihn nach einer Drohung mit heißem Bratfett übergießt. Der Mann liegt darauf im Sterben.

Walter Kovacs wehrt sich mit heißen Bratfett.

Walter Kovacs wehrt sich mit heißen Bratfett.

Da Walter als Rorschach schon mehrere der Insassen hinter Gitter gebracht hat, drohen sie ihm mit Rache. Die Situation wird lebensbedrohlich für ihn, aber er bleibt ruhig und Herr der Lage – wie schon beim Therapieversuch. Die anderen müssen sich nach ihm richten. Rorschach macht keine Kompromisse.

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Watchmen #5: Fearful Symmetry

watchmen #5 cover

DC Comics

Eine Pfütze im Regen. Rotes Licht spiegelt sich darin, ein auf den Kopf gestelltes Symbol, ein doppeltes R, Rücken and Rücken, darunter gekreuzte Knochen – eine Leuchtreklame eines Etablissements namens „The Rumrunner“. Das Doppel-R erinnert an einen Totenkopf. Der Piratenbezug lässt an The Black Freighter denken, die Symmetrie des Symbols an Rorschach, dessen erster Buchstabe hier gespiegelt wird. Rorschach selbst setzt zwei kleine „r“ als Zeichen, wie man auf Seite 3 sehen kann.

Rorschach bricht wieder bei Edgar Jacobi (Moloch) ein, um ihn zum zweiten Mal zu befragen. Beim ersten Mal (Watchmen #2) war er aus dem Kühlschrank gesprungen, um Jacobi einzuschüchtern, diesmal lässt er nur seinen Mantel darin und den Zettel mit der Aufschrift „BeHinD you.“ Daraufhin steckt er Jacobi selbst in den Kühlschrank und droht, ihn darin einzuschließen. Aber Rorschach findet nichts heraus.

Der Kreis und das Dreieck

In der Zwischenzeit drehen Menschen angesichts der globalen Bedrohung durch. Nachdem die Russen in Afghanistan einmarschiert sind, hat ein Vater aus Angst vor einem Atomkrieg seine Kinder getötet. Die beiden Ermittler aus Watchmen #1 besichtigen den Tatort. Auf einem Plakat mit einer Buddhafigur und einer gelben Sonne kehrt das Kreissymbol zurück, wie der Smiley ist die Sonne mit Blut bespritzt.

Dreieck im Kreis: Pyramid Deliveries

Dreieck im Kreis: Pyramid Deliveries (DC Comics)

Hinzu kommt ein Dreieck, das hier vermehrt auftaucht: auf dem Laster von Pyramid Deliveries (der schon in Watchmen #1, Seite 1 zu sehen war) sowie auf dem Plakat der Band „Pink Triangle“.

Pink Triangle

Pink Triangle Live: Gay Women Against Rape (DC Comics)

Aber auch im herausgestellten V von „Veidt“ ist eine Dreiecksform zu erkennen, wenn auch auf dem Kopf. Zusammen mit dem nach oben zeigenden Dreieck bildet es die Form der gekreuzten Knochen des Rumrunner und der Piratenflagge – und deutet damit bereits den nahenden Tod an.

Symmetrie überall

Auf Adrian Veidt wird ein Attentatsversuch verübt. Veidt kann es verhindern und erschlägt den Angreifer. Für diese Actionsequenz wird auf den Seiten 14-15 erstmals das typische Seitenraster aufgebrochen, für ein Doppelseiten-Layout mit jeweils vier gegenüberliegenden Panels – mit dem Veidt-V in der Mitte entsteht die im Titel genannte Symmetrie.

Das Motiv taucht mehrfach in dem Kapitel auf: Rorschach beobachtet ein Graffito , das ein küssendes Paar als Schattenriss zeigt (Seite 11), es erscheint an mehreren Orten in der Stadt. Später wird es mit den Schatten von Hiroshima-Opfern assoziiert. Rorschach stellt im Gunga-Diner selbst ein Rorschach-Muster her.

Watchmen #5: Rorschach im Gunga Diner

Rorschach im Gunga Diner

In diesem Diner sitzen auch Daniel und Laurie. Sie werden zunächst als Spiegelbilder gezeigt (Seite 10), dann später spiegeln sich beide erneut in Lauries Schlafzimmer (Seite 19), die Seiten sind sogar gleich aufgebaut.

Blakes Aktenzeichen und Grateful Dead-Plakat "Aoxomoxoa".

Blakes Aktenzeichen und Grateful Dead-Plakat „Aoxomoxoa“.

Einer der Polizisten betrachtet ein Plakat der Band Grateful Dead, das das symmetrisch aufgebaute Covermotiv des Albums Aoxomoxoa zeigt (Seite 22). Wieder ist darauf der Totenkopf mit den gekreuzten Knochen zu sehen, außerdem ist Aoxmoxoa ein Palindrom, also ein ’symmetrisches‘ Wort. Abgesehen davon ist das Cover voller Fruchtbarkeits-Symbole, darunter auch eine Sonne, die aussieht wie ein Ei, das von Spermien umgeben ist. Auch die Zahl auf Blakes Akte ist symmetrisch angeordet: 801108.

Rorschach als Hai und Tiger

Der Held des Black Freighter baut sich ein Floß aus den Leichen und segelt aufs Meer hinaus. Er ernährt sich von Möwen und kämpft mit einem Hai, tötet ihn, macht ihn zum Bestandteil des Floßes und isst auch dessen Fleisch. Alan Moore erlaubt sich damit ein Wortspiel: Als ein unbekannter Anrufer der Polizei Rorschachs Aufenthaltsort verrät, versteht der eine Ermittler bloß „raw shark“ (roher Hai), bis er begreift, dass es „Rorschach“ heißt. Der Bezug irritiert, denn hier scheint sich die Symbolik in der Allegorie plötzlich zu verschieben. Hätte man anfangs den Comichelden als Inkarnation des Gewissens für Rorschachs Gegenstück halten können, ist nun Rorschach der Hai, der den Helden bedroht. Und tatsächlich wird er als weder schwarz noch weiß beschrieben und weist Flecken auf seiner hellgelben Haut auf. Hier kommt die Frage auf, für wen der Gestrandete stehen könnte. (Am Ende stellt sich heraus: Es steht für Adrian Veidt/Ozymandias.)

watchmen #5: shark (black freighter)

Gepunkteter Hai: Symbol für Rorschach.

Rorschach ist das Opfer: Er wird wieder zu Jacobi gelockt, er tappt in die Falle, Jacobi wurde durch einen Kopfschuss getötet und die Polizei trifft kurz darauf ein. Rorschach wehrt sich mit Feuer und erschießt einen Polizisten mit seinem Haken, aber am Ende wird er überwältigt, festgenommen und seiner Maske beraubt. Rorschach schreit: „My Face!“ Seine Maske ist seine wahre Identität geworden (was im nächsten Kapitel näher ausgeführt wird). Kovacs ist die Maske. Seine Symmetrie ist aufgebrochen. Und trotzdem ist für die Polizisten alles im Gleichgewicht: „Everything evens out eventually. Everything balances“, sagt einer. Tatsächlich gibt die Struktur ihm recht: Am Ende steht wieder der Totenkopf des Rumrunner-Logos – alles zurück auf Anfang.

Rorschach without Mask: "My Face!"

Rorschach demaskiert: Alles im Gleichgewicht.

Alan Moore schließt das Kapitel mit der ersten Strophe von William Blakes Gedicht „The Tyger“.

Tyger, Tyger burning bright,
In the forests of the night,
What immortal hand or eye
Could frame thy fearful symmetry?

Wieder ändert sich die Symbolik: Der „Hai“ Rorschach wird als Inkarnation der Symmetrie zum Tiger. Dadurch bekommt das Verb „frame“ eine zweite Bedeutung, nämlich die von „jemandem etwas anhängen“ oder „anschmieren“. Wer hat Rorschach, der es geschafft hat, acht Jahre lang in der Illegalität zu wirken, reingelegt?

Nach dem Mord am Comedian, dem versuchten Anschlag auf Veidt und Dr. Manhattans Exil (Watchmen #4) ist es damit ist bereits der vierte Held, der ausgeschaltet werden soll. Jetzt ist es an Nite Owl und Silk Spectre herauszufinden, was vor sich geht.

Im Anhang wird die Entstehungsgeschichte des Black Freighter-Comics erzählt. Die Geschichte erhält den Namen „Marooned“ (Ausgesetzt) und es wird vorweggenommen (gespoiltert), wie sie ausgeht: Am Ende hat er sich noch weiter von der Menschlichkeit entfernt (noch ein Indiz dafür, dass es um Veidt geht). Alan Moore spart dabei nicht mit Selbstlob über seine eigenen erzählerischen Fähigkeiten, die er aber dem fiktiven Autor Max Shea zuschreibt. Dieser gilt als vermisst. Er ist einer der Künstler, die auf der Insel festgehalten werden, von der Blake gegenüber Jacobi gesprochen hat. Mit der Erwähnung von Joe Orlando als Zeichner des Black Freighter durchbricht Moore wieder die Grenze zur Realität: Das Foto ist echt, Orlando gab es wirklich, er hat Comics für EC, DC und Marvel gezeichnet, und im Anhang von Watchmen #5 stammt auch eine Illustration von ihm.

Die Fiktion von Watchmen weist zurück in die Realität: Der Superheldencomic spielt in einer Welt, die zwar nicht die unsere ist, aber durchaus unsere sein könnte. Bei aller Fantastik hat es mehr mit uns zu tun, als es auf den ersten Blick scheint.

>> Watchmen-Bibliografie