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Als Alan Moore Mitte der 80er-Jahre mit Werken wie Watchmen neue Standards für das Erzählen in Comics setzte, schrieb er einen Essay, in dem er über die Zukunft des Mediums reflektiert. In den 80ern ist Moore ein Pionier auf einem Markt, in dem immer noch nicht die Möglichkeiten des Comics ausgereizt werden.
Moore plädiert dafür, zunächst die Art zu ändern, wie über Comics gedacht wird. Nur so könne das Medium sich entwickeln – und das hält Moore für unerlässlich für ihr Fortbestehen. In einer Welt, der radikale Veränderungen bevorstehen, müssen auch Comics flexibel sein, um diesem ständigen Wandel zu widerstehen.
Und um Comics zu verändern, muss verändert werden, wie über ihre Entstehung nachgedacht wird. Dem Schreiben misst Moore dabei die wichtigste Rolle zu, weil es am Anfang des Schaffensprozesses steht. Daher ist Writing for Comics auch eine Art Ratgeber für angehende Autoren.
Moore stellt fest, dass Comics hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben, weil sie immer noch nicht als etwas Eigenständiges angesehen werden. Auch wenn manche Panel-Beschreibungen dem Kino entlehnt sind, wird ein Vergleich mit dem Film dem Comic nicht gerecht. Auch wenn gewisse Techniken des Kinos den Comic voranbringen können, wird ein Comic nach diesen Maßstäben immer wie ein Film ohne Bewegung und Ton wirken. Ähnlich verhält es sich bei Vergleichen zwischen Comics und Literatur.
Vielmehr sollte man sich laut Moore auf die einzigartigen Eigenschaften und Techniken von Comics konzentrieren, die ein Film oder ein literarisches Buch nicht nachahmen kann. Comics können eine große Wirkung auf Leser entfalten, bleiben aber bisher hinter ihren Möglichkeiten zurück. Das liege daran, wie eng die Vorstellungen darüber seien, was eine Comicstory ausmache.
Kein Comic ohne zentrale Idee
Moore wirft vielen Comic-Autoren vor, dass ihre Werke ohne eine zentrale Idee auskommen. Viele Comics handelten bloß von einem Kampf zwischen zwei oder mehreren Antagonisten, der meist auf eine Deus-ex-machina-Lösung hinausläuft. Der Konflikt ist Selbstzweck. Die Idee einer Geschichte ist aber nicht mit dem Plot zu verwechseln. Eine Idee ist, wovon die Geschichte wirklich handelt, also ihr übergeordnetes Thema.
Wie genau die Idee beschaffen ist, ist für Moore nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass es überhaupt eine interessante Idee gibt. Eine Möglichkeit, eine solche zu erschaffen, sind „Was wäre wenn … ?“-Szenarios, wie man sie häufig in der Science-Fiction antrifft. Die Idee kann also als Frage formuliert werden, zum Beispiel, wie in Moores Geschichten: Was ist, wenn ein Mensch Zeit in umgekehrter Richtung wahrnimmt? Was ist, wenn Menschen auf der Sonne leben könnten? Was ist, wenn Aliens Menschen das antun, was die Weißen den indigenen Völkern angetan haben? Allerdings müsse eine Idee nicht immer am Anfang des Schreibens stehen, sondern könne sich auch erst im Laufe des Prozesses herausstellen.
Die Herkunft der Ideen
Wo aber kommen die Ideen her? Die typische Frage, mit der Autoren häufig konfrontiert werden (und der sie meistens ausweichen), beantwortet Moore überraschend konkret: Ideen entstehen an einem Punkt, wo sich künstlerische Einflüsse und eigene Erlebnisse überschneiden. Andere Werke zu studieren sei also genauso wichtig wie persönliche Erfahrung.
In Moores Poetik ist der Plot nicht der Hauptaspekt der Geschichte oder der Hauptgrund dafür, dass die Geschichte existiert. Der Plot ist dafür da, die zentrale Idee der Geschichte und der Charaktere zu steigern. Eine Besessenheit von einem linearen Plot sei einer der besten Wege, alles Leben und Energie aus einer Geschichte zu pressen. Eine Geschichte sollte sich nicht in der mechanischen Erzählung erschöpfen.
Einen Plot definiert Moore als Kombination von Umwelt und Charakteren mit Zeit. Wenn Umwelt und Charaktere zusammen die Situation bilden, dann ist der Plot die Situation in vier Dimensionen. Der Plot sollte der Erzählfaden sein, der am meisten von dieser Welt offenbart.
Der Umgang mit dem Leser
Bevor Moore beschreibt, wie man eine Geschichte erzählt, geht er der Frage nach, für wen man erzählt. Er lehnt die Vorstellung eines „durchschnittlichen Lesers“ ab, da es ihn ohnehin nicht gibt. Daher sollte nicht der Autor sich seine Leser vorstellen, sondern das Werk selbst sollte sein Publikum finden. Wenn das Werk genug Integrität habe, werde das früher oder später passieren, so Moore.
Das Material mit dem ein Autor arbeite, sind menschliche Gedanken, Gefühle und Ideen. Daher sollte man, wenn man sich einen Leser vorstellt, nicht vom kleinsten gemeinsamen Nenner ausgehen, was öffentlich akzeptabel ist, sondern den gemeinsamen Nenner der grundsätzlichen Menschlichkeit.
Eine erfolgreiche Geschichte ist für Moore fast wie Hypnose: Man fasziniert den Leser mit dem ersten Satz, zieht ihn mit dem zweiten weiter hinein und behält ihn mit dem dritten in sanfter Trance. Ohne ihn aufzuwecken, trägt man ihn weiter hinein in die Geschichte, und wenn er sich ihr hingegeben hat, tut man ihm brutale Gewalt an (Moore spricht vom Verprügeln mit einem Softball-Schläger) und entlässt ihn winselnd auf der letzten Seite. „Believe me, they’ll thank you for it.“
Moore betont, es sei wichtig, die Leser nicht aufzuwecken, bis man es möchte. Zu unerwünschten Erwachen kann es vor allem an den Szenenübergängen kommen. Sie sind die potenziellen Schwachstellen des Comics. Moore stellt verschiedene Techniken vor, wie man sie überbrücken kann: mit einem überlappenden Dialog, verbindenden visuellen Details (wie der Match-Cut im Film) oder indem man mit der Einheit einer einzelnen Seite arbeitet, sodass das Blättern den Takt angibt und ein Szenenwechsel nicht den Rhythmus der Geschichte stört.
Wie erschafft man Welten und Persönlichkeiten?
„Jedes Mal, wenn man eine Geschichte anfängt, erschafft man eine Welt und bevölkert sie“, schreibt Moore. Deshalb legt er Wert auf Glaubwürdigkeit in der Ausgestaltung der Erzählwelt und ihrer Charaktere. Moore rät dazu, sich seine Welt so genau wie möglich zu überlegen, bevor man mit dem eigentlichen Schreiben anfängt. Wenn man eine Welt und ihre Regeln definiert hat, muss man sie nicht groß einführen, sondern kann das nebenher tun, indem man zwischendurch kleine Details einstreut. Je nebensächlicher man das tut, desto überzeugender und realistischer erscheint sie.
Ähnlich verhält es sich mit Charakteren. Für Moore ist jeder in der Geschichte ein Charakter, selbst unbedeutende Nebenfiguren im Hintergrund. Um lebendige Charaktere zu erschaffen, muss man dieser Tatsache Rechnung tragen. Kein Mensch kann in 15 Wörtern zusammengefasst werden, zumindest nicht auf bedeutende Weise. Das liegt daran, dass Menschen vielseitig sind: Sie verändern ihre Persönlichkeit, je nachdem, mit wem sie sprechen, sodass sie „out of character“ erscheinen. Um diese Tiefe auch bei fiktiven Figuren zu simulieren, appelliert Moore an Autoren, sich selbst und andere Menschen genau zu beobachten, jedes Detail, jeden sprachlichen Tick und jede unbewusste Geste zu studieren. Auch wenn es unmöglich ist, das Leben zu imitieren, kann man sich dem Ziel zumindest annähern. „Es gibt keinen Ersatz für praktische Erfahrung.“ Moore plädiert auch dafür, sich mit den Aspekten der eigenen Persönlichkeit auseinanderzusetzen, mit der man sich am unwohlsten fühlt, und diese dann ehrlich zu bewerten.
Moore selbst arbeitet mit Method-Acting, also dem Sich-Hinein-Versetzen in Charaktere. So erklärt er, wie er für Swamp Thing #27 sich nicht nur vorgestellt hat, wie es ist, wenn sich Jason Blood in Etrigan verwandelt, er hat sich auch über das Leben des Dämons in der Hölle Gedanken gemacht, seine Sprechweise, seinen Körper. Moore hat Etrigan tatsächlich sogar zu Hause gespielt, bevor er ihn auf Papier beschrieben hat.
Wie schreibt man gute Dialoge?
Wie aber lässt sich interessant schreiben? Es geht nicht um den Thema, sagt Moore. Viel wichtiger sei die Anordnung der Wörter, das die Sätze zum Leben erweckt. Das Interessanteste an Sätzen sei oft das Element der Überraschung, ein ungewöhnliches Wort oder die überraschende Gegenüberstellung zweier verschiedener Konzepte, wie etwa bei ungewöhnlichen Metaphern.
Bei Dialogen geht es um Rhythmus um Klang. Moore rät, wie andere auch, sich selbst seine Dialoge laut vorzulesen, um zu überprüfen, ob sie so klingen, wie Menschen tatsächlich sprechen. Die meisten Comic-Dialoge bestehen diesen Test nicht.
Ratschläge für fortgeschrittene Autoren
Im Nachwort, das Moore für die Neuauflage seines Essays im Jahr 2003 geschrieben hat, nimmt er einige Ratschläge wieder zurück und ergänzt ein paar neue, die sich nicht mehr an Anfänger, sondern an Profis richten.
- Vermeide einen eigenen Stil: Bestimmte Tricks immer wieder zu verwenden, kann zum Klischee werden. Man sollte sich immer neue Effekte überlegen und diese sparsam einsetzen. So überrasche man die Leser.
- Mach es dir schwer: Setze dir Ziele, bei denen du dir nicht sicher bist, ob du sie erreichen kannst. Versuche dich in Genres, Formen oder Themen, die du sonst meidest.
- Gehe Risiken ein, fürchte dich vor nichts, ganz besonders vor dem Scheitern. Sorge dich nicht, zu weit zu gehen. Es gibt kein „Zu weit“. Und wenn doch, dann ist es erst recht der Ort, an den man gehen sollte.
- Wichtiger als ein guter Autor zu sein, ist es, ein guter Mensch zu sein. Man muss etwas zu sagen haben, das von beständigem menschlichem Wert ist.
Zum Schluss hält Moore ein Plädoyer für die Liebe: „Love people. Love yourself and love the world. It’s only when we love things that we really, truly see them in their most lucid and perfect aspect; that we truly know them.“
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